Deutschstunde. Siegfried Lenz
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Laß ihn, sagte meine Schwester, faß ihn nicht an. Sie hatte keine Zeit, um darüber erstaunt zu sein, daß ich plötzlich neben ihr war. Sie knöpfte Addis Hemd zu, streichelte scheu sein Gesicht, nicht erregt oder erschrocken, sondern scheu, und ich konnte beobachten, wie Addi sich unter ihrer Liebkosung beruhigte, aufseufzte und sich mit ängstlichem Lächeln erhob und mir zuwinkte, als er sah, daß ich mit meinem Stock die Möwen von ihm abhielt.
Hierhin und dorthin zuckte mein Stock, verblüffte die angreifenden Möwen, beendete ihren Sturz. Ich tat jetzt so, als hätte ich keine Zeit, auf die Vorwürfe einzugehen, die meine Schwester vorbereitete: ich focht für Addi. Ja. Ich kämpfte eine Kompaßrose frei. Mit Ausfallschritten, mit Sprüngen, mit Würfen aus dem Handgelenk setzte ich mich gegen die Vögel zur Wehr, während Hilke hastig Eier in den Bastkorb sammelte und Addi nur benommen dastand und sich den Nacken rieb, einen überraschend alten Nacken, wie ich feststellen mußte, durchfurcht und schon bißchen verledert.
Die Möwen wechselten auf einmal die Taktik. Sie hatten anscheinend gemerkt, daß sie mit Scheinangriffen nichts erreichten, nur einzelne Kamikaze-Vögel, Sturmmöwen vor allem, stürzten sich noch auf uns, die Schwimmfüße schön angelegt, mit aufgesperrtem, korallenrotem Schlund, mit Ju-87-Schwingen, doch das waren nur ein paar unaufgeklärte Nachzügler; denn die andern alle organisierten sich in flacher Wolke über uns, flatterten mit klatschendem Schlag auf der Stelle und griffen uns mit Geschrei an. Da Sturzflüge nicht halfen, sollte uns Möwengeschrei in die Flucht schlagen. Das kreischte. Das gellte. Das knarrte und keckerte. Das miaute. Spitz drang es ins Gehirn, ins Rückenmark, rief eine Gänsehaut hervor.
Addi hielt sich lächelnd die Ohren zu. Hilke sammelte gebückt Eier in den Bastkorb, getroffen und wieder getroffen von schrägem Möwenschiß. Ich warf meinen Stock nur noch in die Luft und verursachte damit federstäubenden Aufruhr. Mein Stock verschwand manchmal zwischen all den Leibern und Schwingen, und einmal traf ich eine Mantelmöwe an ihrem Bug, aber sie stürzte nicht, plumpste mir nicht vor die Füße. Ich konnte den erregten Möwenhimmel nicht durchlöchern. Ich konnte ihn nicht einschüchtern, auch nicht zur Ruhe bringen. Die Möwen lärmten, aber wir hielten dem Lärm stand.
Einmal schnappte eine Möwe nach meinem Bein, und weil mein Stock sie nicht traf, schleuderte ich ein Ei nach ihr, und das Ei zersprang auf ihrem Rücken, und das zerplatzende Dotter machte ihr gelbe Hoheitsabzeichen: nun flog sie für Brasilien.
Addi nickte mir anerkennend zu, er hatte den Treffer beobachtet, und er kam zu mir und zog mich unter seinen Regenmantel, weil uns von See her die ersten Böen anfuhren, die ersten scharfen Stöße, die den Strandhafer glatt an den Boden drückten und die den Sand in kleinen Fahnen emporrissen und ihn gegen meine nackten Beine warfen.
Er rief Hilke, die immer noch eifrig Eier sammelte. Er zeigte auf die Regenfront und auf die Nordsee. Kürzer war die Bogenlinie des Meeres, trüber, von einem weißlichen Vorhang verdeckt, der wehend auf uns zukam. Das Wasser blitzte und leuchtete im Vordergrund, und von den Kämmen riß der Wind glitzernde Schleppen auf.
Mach Schluß, rief Addi, aber meine Schwester hörte es nicht, oder sie hörte es und wollte nur noch den Korb voll sammeln, und so folgten wir ihr langsam, das heißt: ich bahnte uns einen Weg zu ihr zwischen den Möwen. Ich fühlte mich wohl unter Addis Regenmantel, erhielt mir nur einen Schlitz zum Sehen und Schlagen. Ich spürte die Wärme seines Körpers, lauschte auf seinen schnellgehenden Atem, empfand den leichten Druck seiner Hand als Wohltat auf meiner Schulter.
Mach Schluß, rief er wieder, denn plötzlich hörte der Wind auf, und es begann zu regnen. Hilke erschien klein und entrückt hinter der heftigen Schraffur des Regens, doch immer noch lief sie gebückt zwischen den lieblosen Gelegen, bis auf einmal ein Blitz über der See sprang oder vielmehr riß; das Wurzelwerk eines Blitzes riß im Erscheinen vor dem dunklen Horizont, und ein braver, ich möchte mal sagen, gemütlicher Donner rollte über die Nordsee heran; da richtete meine Schwester sich auf, blickte auf die See, dann auf uns, wies mit ausgestrecktem Arm auf ein Ziel und lief, von ihren nach innen gekehrten Waden stark behindert, gleich los in die bezeichnete Richtung, worauf uns nichts anderes übrigblieb, als ihr zu folgen.
Möwen stoben auf. Abwehrbereit sperrten sie ihre Schnäbel auf. Ein Wasserfall von irrsinnigem Geschrei stürzte auf uns herab, während wir vor Regen und Gewitter flohen, durch den Sand, durch das Dünental, über die Düne. Der Wind hatte wieder eingesetzt und warf uns den Regen entgegen, den Frühjahrsregen von Rugbüll, der den Gräben und Kanälen ihre Enge beweist, die Wiesen absaufen läßt, und der von den knochigen Hinterteilen des Viehs den getrockneten und verzottelten Winterspinat abwäscht.
Wenn es bei uns regnet, dann verliert das Land seine Offenheit, seine schutzlose Tiefe, ein zerstäubter Nebel hängt über ihm und nimmt einem die Sicht; alles wird niedrig, verkürzt sich oder wächst sich schwarz und knollenhaft aus, und es lohnt sich einfach nicht, unter irgendein Dach zu treten, um ein Ende des Regens abzuwarten, denn das Ende läßt sich nicht absehen, man kann es nur nach einem Erwachen glücklich feststellen. Wenn es nur geregnet hätte, wären wir gemächlich nach Hause gegangen, das nehme ich doch an, aber das Gewitter trieb uns zum Lauf über die Düne, die reißenden Blitze über der See, der Donner, die harten Böen; das war kein Gehen unter der Wucht dieses Unwetters, wir taumelten über den stumpfen und nassen Sand der Düne, immer noch Hilke folgend, die jetzt auf die Hütte des Malers zulief, die Hütte erreichte und sogleich die Tür aufriß, aber nicht schloß, sondern in der dunklen, vom Regen schraffierten Öffnung stehenblieb und uns winkte und zur Eile anspornte, bis wir bei ihr waren. Sie rief uns in die Hütte hinein. Sie warf die Tür zu und seufzte zufrieden auf.
Den Riegel, sagte der Maler, du mußt noch den Riegel vorschieben, und meine Schwester schlug mit ihrem Handballen gegen den Riegel, und dann standen wir triefend in der Hütte des Malers.
Ich tauchte gleich unter Addis Mantel hervor, ging um den Arbeitstisch herum an das breite Fenster und sah hinaus wie schon einmal und erwartete wie schon einmal, einen toten Mann in der Brandung zu erkennen, einen toten Flieger, den die Wellen gegen den Strand warfen und den der Sog dem Meer zurückgewann, und vielleicht wußte der Maler, wonach ich Ausschau hielt, denn er sagte nur lächelnd: Gewitter, heute gibt’s nur Gewitter.
Ich hatte ihn ja oft zu seiner Hütte begleitet, und ich hatte neben ihm auf dem Arbeitstisch gesessen, wenn er die Entstehung oder das Ende einer Welle beobachtete oder die Wolken oder das herrschsüchtige Licht über dem Meer, und damals, als wir gemeinsam den toten Flieger entdeckten, hatte er mich lange festgehalten auf dem Tisch und nur den weich driftenden, rollenden, entspannt treibenden Körper beobachtet, der den Rhythmus der Dünung so in sich aufgenommen hatte, daß er selbst leicht dünte und sich schlaff überschlug, ja, und es dauerte mir viel zu lange, bis wir endlich hinabliefen und den toten Flieger auf den Strand zogen.
Nur Gewitter, sagte er und lächelte in der Dämmerung, dann zog er ein großes Taschentuch heraus und trocknete mir das Gesicht ab, während ich die flockige Brandung absuchte und nach seiner Auffassung nicht still genug hielt, denn er befahl mir mehrmals: Still, halt doch mal still, Witt-Witt. Er war der einzige, der mich so nannte, warum auch nicht: Witt-Witt ist der eilige, besorgte Ruf der Strandläufer, mehr fällt ihnen nicht ein, vielleicht fiel dem Maler auch nicht mehr zu mir ein, jedenfalls nannte er mich so, und auf Witt-Witt sah ich mich nun um oder kam näher oder hielt still. Max Ludwig Nansen rieb mir auch das Haar trocken und den Hals und die Beine, und danach reichte er sein großes Taschentuch Hilke, die sich ebenfalls abzureiben begann und dann mit den Fingern ihr nasses, langes Haar strählte und preßte. Rauh und stoßweise kam der