Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt

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Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt

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würde auch wissen, was mit dem Handy dieser Tramperin zu tun war, Nick hatte versucht, es anzuschalten, aber der Bildschirm blieb schwarz.

      Vom Einkaufszentrum war er mit einem Bus zurück ins Café gefahren, hatte dort einen Kaffee mit Jemi getrunken, die nicht mehr ganz so bleich war wie zuvor. Ihre Finger, mit denen sie seine Hände umklammerte, waren nicht mehr klamm und kalt, sie sagte, sie habe sich die gesamte Zeit seiner Abwesenheit über am Tee gewärmt.

      »Wir fahren nach Kopenhagen und dort suchen wir eine Jugendherberge, okay?«

      Sie sah ihn verständnislos an. Immer wieder vergaß er, dass sie nichts von dem kannte, was er über die Welt wusste, und er war selbst zehn lange Jahre auf einem anderen Planeten gewesen. Nick erklärte Jemi, dass es sich um eine günstige Unterkunft handele, in der nicht nur Jugendliche übernachten durften, auch wenn es sich so anhörte. Jugendherbergen kannte er zur Genüge, er und sein Bruder hatten mit den Eltern auf diese Art Urlaub verbracht. Wenn man es überhaupt Urlaub nennen konnte, ihre Freunde waren in den Skiferien gewesen oder am Gardasee. Nach Mallorca oder sogar nach Thailand geflogen.

      Sie wanderten in der Eifel.

      Wenn er darüber nachdachte, war seine Kindheit beschissen gewesen, aber alles, was danach kam, war noch viel beschissener, sie hatten ihm das Leben weggenommen, das er vorher wenigstens ansatzweise gehabt hatte.

      Wie sehr er seine Eltern dafür verachtete.

      Er hasste sie nicht, sein Hass galt ihm, Hiob, der Flamme. Seine Eltern waren einfach nur kleine arme Würstchen und sein Bruder hatte es genau gewusst.

      »Zeit, dass wir zur Fähre gehen«, sagte Nick nun nach einem Blick auf die Uhr.

      »Sehe ich noch mal das Meer?«, fragte Jemi, und ihre Wangen röteten sich leicht, aufgeregt wie ein kleines Kind.

      »Ja«, sagte Nick. »Du wirst das Meer sehen. Es ist aber nur ein ganz kleines Meer. Eher so eine Art breiter Fluss, nicht so wie das Meer, an dem wir gestern waren.«

      Nach dem Streit mit Merle waren sie weiter südlich gefahren und hatten an einem Campingplatz in den Dünen haltgemacht. Der Platz war verlassen, sie hatten im Pick-up geschlafen, sich gegenseitig mit ihren Körpern gewärmt. Als sich am Morgen der Vorhang der Nacht hob, hatten sie durch das beschlagene Fenster graue See gesehen. Ein endloses Grau in Grau, Himmel und Wasser verschmolzen zu einer Decke aus flüssigem Blei. Aber Jemi war außer sich gewesen, das erste Mal hatte sie eine Ahnung von der Weite der Welt bekommen.

      Sie hatte neunzehn Jahre mit begrenztem Horizont gelebt.

      Wald war überall dort gewesen, wo sie hatte hinblicken können. Schwarzer Wald, ein paar Felder, das war ihr Leben.

      Aber nun würde alles anders werden.

      Nick legte Geld auf den Tisch, schenkte der Kellnerin ein Lächeln und zog Jemi hinter sich her aus dem Laden. Die große Fähre lag bereits am Kai, sie war von weitem zu sehen, und Nick spürte, dass alles gut werden würde.

      Ganz sicher.

      Alles.

      Gut.

      Frederikshavn

      Ole hatte den Wagen in der Einfahrt geparkt und blieb darin sitzen, bis er gebraucht würde. Er hörte ein Hörspiel, Sherlock Holmes, ausgerechnet. Helle stand vor dem Haus und rauchte. Sie hatte noch das Päckchen Gauloises und dachte an Bengt. Und Emil. Und dass sie um so vieles lieber mit ihren Männern in den durchgesessenen Polstern ihres alten Volvos durch die Schweiz oder Österreich juckeln würde, anstatt in dieses Haus zu gehen.

      In das Trauerhaus.

      Das Totenhaus.

      Das Haus, in dem Inez und Fredrick Brabant saßen wie in einem gläsernen Sarg.

      Aus dem modernen Holz-Glas-Kubus drang warmes Licht nach außen und gaukelte die Idylle eines gemütlichen Heims vor. Doch das würde es auf lange Jahre nicht mehr sein bei der Familie Brabant. Es würde keine gemütlichen und unbeschwerten Abende geben.

      Wie macht man das, fragte sich Helle, mit dieser monströsen Trauer, die den Raum bis in die letzten Ritzen ausfüllte, mit einem Verlust, der Körper und Geist lähmte, umzugehen? Als Paar. Was tat man? Konnte man sich an den Händen fassen, sich Trost geben, aneinander Halt finden?

      Oder war man in all dem Horror zuletzt nicht einfach nur allein.

      Die Brabants hatten Helle eingelassen und nun saßen sie versprengt auf der teuren Sitzgruppe in dem übergroßen Wohnbereich, Fredrick und seine Frau Inez in größtmöglichem Abstand. Helle versank dazwischen in den tiefen Roche-Bobois-Sitzelementen, deren Knuddeligkeit und leuchtende Farbgebung ein allzu grelles Licht auf die dunkle Trauer der beiden Menschen, die hier nun weiterleben mussten, warf. Auf dem Sofatisch wartete eine Flasche Rotwein darauf, geöffnet zu werden, aber niemand machte Anstalten. Helle hatte um ein Glas Wasser gebeten.

      Merles Eltern mussten beide viel geweint haben, Fredrick, ein hochgewachsener, sportlicher Mann mit markanten Gesichtszügen und nun grauem Haar, hatte ebenso wie seine spanischstämmige Frau Inez – klein, dunkel, drahtig, nicht minder attraktiv – rot geschwollene Augen. Merle war die einzige Tochter des Paares gewesen.

      Nachdem Helle beide kurz in den Arm genommen und ihr Beileid ausgedrückt hatte, schwiegen sie zusammen. Helle fühlte sich, als wäre sie niemals zuvor in diesem Haus gewesen, als wäre sie fremd. Sie fühlte sich von den beiden Menschen, zwischen denen sie saß, distanziert. Als hätte es niemals die Kindergeburtstage gegeben, die Grillfeste, gemeinsame Ausflüge, die mit einem Lagerfeuer im Garten, Stockbrot und Gesängen, bis sie heiser waren, geendet hatten. Es war, als hätte Merles Tod durch eine Leere, die man greifen konnte, all das abgeschnitten.

      »Ich kann euch im Moment kaum etwas Neues sagen«, begann Helle. »Eure Aussagen habe ich gelesen. Ich wollte kommen und bei euch sein.«

      Fredrick nickte, Inez fasste hinüber zu Helle und drückte einmal kurz ihre Hand, als wäre ihr Gast diejenige, die getröstet werden musste.

      Helle guckte zu Boden. Die Tatsache, dass Merle an einer Tankstelle in Aalborg in ein fremdes Auto gestiegen war, wollte sie noch für sich behalten. Sie war ganz sicher, dass die Eltern davon nichts wussten, die beiden hatten ausgesagt, dass Merle mit dem Zug fahren wollte. Und solange Helle und ihre Kollegen über den jungen Mann und das Mädchen, die mit dem Pick-up an der Tankstelle waren, nicht mehr in Erfahrung gebracht hatten, wollte sie Merles Eltern nicht noch weiter erschüttern. Etwas an dem jungen Pärchen, das Merle mitgenommen hatte, war seltsam. Der Tankstellenbesitzer, der sich als gewissenhafter Zeuge herausstellte, hatte ausgesagt, dass die junge Frau sich auffällig benommen habe, als sie zahlen wollte. Als hätte sie nicht gewusst, was zu tun sei, der Mann mutmaßte, dass sie unter Drogen stand, weil sie vollkommen neben der Spur wirkte. Auf den Bändern der Überwachungskameras an der Tankstelle konnte man außerdem erkennen, dass der junge Mann, der getankt und am Auto stehen geblieben war, sich bemühte, sein Gesicht unter der Kapuze seines Sweaters zu verbergen.

      Etwas war mit den beiden also ganz und gar nicht in Ordnung. Aber auch wenn es im Moment so aussah, als hätte Merle ihr Unglück mit dem Einsteigen in den Pick-up besiegelt – noch besaß Helle keinerlei weiterführenden Erkenntnisse. Sie hätte es nicht richtig gefunden, Inez und Fredrick mit verwirrenden Informationen falsche Bilder in den Kopf zu setzen. Sie wollte abwarten.

      »Ich habe Merle seit der Abi-Feier letztes Jahr kaum gesehen«, setzte

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