Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt

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Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt

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Sie waren bereits weit hinter Kolding, weil sie eigentlich vorgehabt hatten, nach Deutschland zu fahren. Nick war überzeugt gewesen, dass man sich irgendwo weit ab von den großen Straßen über die Felder oder den Wald ins Nachbarland durchschlagen konnte. Aber das Risiko war jetzt viel zu hoch. Man würde sie suchen.

      Er gab Gas und nahm die Abzweigung auf die A8, um dann an der nächsten Ausfahrt die Autobahn wieder zu verlassen.

      Er war kopflos, konnte keinen klaren Gedanken fassen.

      Das Mädchen, der Streit, würde man nach ihnen suchen? Wo sollten sie hin? Er hörte Jemi murmeln, sah ihre gefalteten Hände, und in ihm stieg Wut auf, ein vertrautes Gefühl, Wut, die sich wie eine Faust in seinem Magen zusammenballte, eine Faust, die wuchs und wuchs und seinen Körper von innen sprengen würde, wenn er jetzt nicht Dampf ablassen konnte. Wut, die er ihr gegenüber noch nie empfunden hatte, sie war doch sein Mädchen, seine Frau, seine Jemi.

      Es war die Wut auf Hiob, auf die frommen Lügen, die Gebete, die Bibel, die Sprüche, die Schläge und die Geißelungen, die Wut auf seine beschissen fanatischen Eltern …

      Ein Schild wies zu einem Wanderrundweg in dem ausgedehnten Waldgebiet und Nick folgte der Straße. Eine halbe Stunde später fuhr er einen Forstweg entlang, verboten für den Verkehr, aber genau das, was er gesucht hatte. Er hielt an, stellte den Motor ab.

      »Du bleibst hier drin«, beschied er Jemi, die ihn verwirrt ansah. »Ich muss ein paar Schritte laufen. Mir was überlegen. Wir brauchen einen Plan, okay?«

      »Nick?« Sie zog ihre schmalen Brauen zusammen. »Du lässt mich aber nicht allein?« Jemi warf einen angstvollen Blick durch die Windschutzscheibe. Dunkler, dichter Wald.

      Es wäre das Einfachste, schoss es ihm kurz durch den Kopf. Sie hierlassen und alleine weitermachen. Man würde sie finden. Und dann sollten sich andere überlegen, was mit ihr zu tun war.

      »Nein, niemals«, sagte er und küsste sie. Ihre Lippen blieben unbewegt, sie waren heiß und trocken. Er löste sich von ihr, strich ihr über das Haar wie einem kleinen Kind.

      »Ich lass mir was einfallen.«

      Dann ließ er sie alleine im Fond des Wagens und lief auf dem Forstweg ein Stück weiter, bis der Wald lichter wurde, er konnte den Himmel sehen, düster und tief. Schließlich stand er am Ufer eines Sees, der sich weit vor ihm erstreckte, aufgewühlt, Wildgänse erhoben sich in Formation aus dem Uferschilf. Der Wind nahm an Stärke zu, aber Nick genoss die scharfe kalte Luft an seinem Kopf, das Brausen in den Ohren. Er sah den Gänsen hinterher, die am anderen Ufer im Wasser landeten, sich heiser über die Störung beschwerten. Seine Haare waren feucht, sein Gesicht und der Parka, aus dem Nebel wurde Regen.

      Konzentrier dich Nick.

      Man hatte sie zusammen gesehen, sie alle drei, in dem Wagen. Die Tankstelle, an der sie Merle getroffen hatten. Früher oder später würde sich dort jemand erinnern. Und das Auffälligste an ihnen war der Wagen. Ohne ihn waren sie einfach nur ein Pärchen, Nick und Jemi, ein junger Mann und eine junge Frau. Sie würden untertauchen können. Irgendwo, wo Menschen waren, viele Menschen.

      Eine Großstadt.

      Kopenhagen.

      Also mussten sie das Auto loswerden. Am besten wäre, es gleich hier stehen zu lassen. Sich zu Fuß durchschlagen, einen Bus oder Zug finden, irgendwie nach Kopenhagen kommen. Nick hatte nur eine vage Orientierung, im Königreich hatte es weder eine Karte von Dänemark noch von Europa oder gar der Welt gegeben, denn in ihrer aller Vorstellung war alles außerhalb zum Niedergang verurteilt. Aber er hatte einmal, als sie das Holz ihres Waldes verkauften und er die Männer begleiten durfte, im Büro des Sägewerks eine Karte gesehen. Minutenlang hatte er sie angestarrt und versucht, sie sich einzuprägen. Zwei Jahre war es her, und er hatte schon damals gewusst, dass er abhauen würde.

      Was für ein Schwachsinn, dachte er jetzt, sie konnten nirgendwo zu Fuß hin. Sie würde das nicht schaffen. Jemi konnte nicht laufen, erst recht nicht mit Gepäck.

      Er verspürte den Drang, zu flüchten, zu rennen, jetzt und hier zu starten, alles hinter sich zu lassen, den ganzen Mist, der passiert war.

      Vor ihr davonlaufen.

      Er hatte nicht geahnt, was er freigesetzt hatte. Die Angst schlich ihm den Nacken hinauf, drückte seine Augen von innen aus den Höhlen.

      Was, wenn er sie nicht in den Griff bekäme?

      Die Antwort konnte er sich selbst geben.

      Das Mädchen. Das Meer. Die Nacht.

      Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Es war Jemi, die in die Decke gehüllt auf ihn zukam, das wunderschöne lange Haar, dessen Strähnen er sich so gerne um den Finger gewickelt und den Duft eingesogen hatte, sah stumpf aus, ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Wangen eingefallen.

      Zögerlich kam sie näher, fiebrig und kraftlos.

      Als er sie so sah, wusste Nick, dass er dafür verantwortlich war. Er hatte sie aus ihrem Umfeld herausgerissen, weil er gehofft hatte, sie befreien zu können, den Albtraum zu beenden. Stattdessen hatte er sie gezwungen, sich in eine Welt einzufinden, die sie gar nicht gewollt hatte.

      Nun musste er es auch durchziehen. Musste sich um sie kümmern. Es war seine Pflicht.

      Er breitete die Arme aus. »Komm her, Schönheit.«

      Keine drei Stunden später betraten sie zu Fuß die Fähre, die sie von Fynshav nach Bøjden brachte. Nick trug den Rucksack, Jemi war in drei Pullis und ihrer beider Jacken gehüllt. Sie sah lächerlich aus, eine Tonne aus Wolle und Segeltuch, aber dafür war sie warm verpackt.

      Nick war stolz auf sich. Er war nicht durchgedreht und hatte alles richtig gemacht. Den Wagen wieder aus dem Wald und Jemi in der Nähe des Fähranlegers in ein Café gebracht. Dort sollte sie sitzen bleiben, viel Tee trinken, sich aufwärmen und zur Ruhe kommen. Er hatte sogar die Kellnerin gebeten, ein Auge auf seine Freundin zu haben, er müsse dringend weg und würde erst in etwas mehr als einer Stunde wiederkommen.

      Die Kellnerin, ein junges Mädchen, wahrscheinlich eine Studentin, die dort jobbte, war sehr mitfühlend gewesen und hatte ihm versprochen, auf Jemi zu achten. Dabei hatte sie Nick so offen angelächelt, dass er sich fast schämte, sie für seine Zwecke einzuspannen. Ganz offensichtlich tat sie ihm den Gefallen, weil er ihr gefiel.

      Dann hatte er den Pick-up weggebracht. Zuerst wollte er ihn in den Wald fahren, aber dann dachte er, dass der Wagen am besten so verschwand, wie sie beide: Untertauchen unter seinesgleichen. Und so hatte er ihn auf dem riesigen Parkplatz eines Einkaufszentrums abgestellt, wo er so schnell nicht auffallen würde. Hatte den Wagen komplett ausgeräumt, den Müll weggeschmissen und alles, was sie für ihre Unternehmung brauchen konnten, in den Rucksack gestopft. Bei der Gelegenheit war ihm das Handy im Fußraum aufgefallen. Merle musste es verloren haben. Kurz zögerte er, aber dann steckte er es ein. Wer weiß, wozu er das gebrauchen konnte. Mit diesen Apparaten kannte er sich nicht aus, er hatte nie ein Handy besessen. Aber er erinnerte sich, dass einige wenige Klassenkameraden in seiner deutschen Schule schon welche gehabt hatten. Aufklappbare Minitelefone, auf denen man Spiele zocken konnte.

      Zocken, das Wort hatte er von seinem Bruder zuerst gehört. Jan war immer scharf aufs Zocken gewesen. Er war ja schon groß, vierzehn, und hatte deshalb ständig Streit mit den Eltern gehabt.

      Wo bist du jetzt, dachte Nick. Was hast du in den letzten zehn Jahren gemacht? Ich brauche

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