Helle und der falsche Prophet. Judith Arendt
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Читать онлайн книгу Helle und der falsche Prophet - Judith Arendt страница 15
Helle nickte. »Ich weiß. Das hat mir Leif erzählt. Der ist ja auch nicht gerade klimafreundlich in Thailand und so unterwegs gewesen.«
»Sie war ein bisschen besessen«, presste Fredrick nun hervor und knetete seine Hände. »Wir mussten uns zu Hause ziemlich umstellen.«
Inez schluchzte. »Jetzt tut es mir so leid«, brachte sie unter Tränen hervor. »Wir sind am Freitagmorgen, bevor sie fuhr, noch aneinandergeraten.«
Ihr Mann stöhnte und verbarg sein Gesicht in den Händen.
»Wollt ihr mir erzählen, weshalb?«, tastete sich Helle behutsam vorwärts.
»Nichts wirklich Dramatisches«, Fredrick hob das Gesicht und blickte Helle aus glasigen Augen an. »Es war eher immer das gleiche Lied. Ganz egal, ob es das Frühstücksei war oder eine Ledertasche oder …«
»… dein Job«, warf Inez ein.
Helle sah zwischen beiden hin und her.
»Habt ihr Auseinandersetzungen deswegen gehabt?« Sie wusste, dass Fredrick ein hohes Tier bei DanEnergi, einem der größten dänischen Energieversorger, war – ausgerechnet der einzige Betreiber der letzten Kohlestromwerke.
»Wir hatten Diskussionen«, nickte Fredrick. »Ich kann sie ja verstehen. Wir gehen seit einigen Jahren sehr erfolgreich den Weg der regenerativen Energien. Aber es war ihr nicht schnell genug, zu wenig konsequent.«
»Merle war ungeduldig«, bestätigte Inez. »Manchmal naiv und sehr radikal. Sie hat Forderungen gestellt, die …«
»… so schnell einfach nicht umzusetzen sind.« Fredrick stöhnte. »Eigentlich war das phantastisch! Ohne diese Kraft würde sich gar nichts bewegen! Ich …« Er breitete die Arme aus und zuckte hilflos mit den Schultern. Sein Gesicht verzog sich und er begann zu weinen wie ein kleiner Junge.
Helle beschloss, an dieser Stelle nicht nachzubohren. Sie wusste ohnehin, dass dieses Thema sie bei der Aufklärung des Todes nicht weiterbringen würde. Die Auseinandersetzung mit den Kindern, das kannte sie selbst so gut. Ihre Tochter Sina ernährte sich seit Jahren vegan und geriet immer wieder mit Bengt aneinander, der gemäßigten Fleischkonsum propagierte. Ihr Sohn Leif liebte Männer, und durch ihn hatte Helle, die sich immer als aufgeklärt und liberal empfunden hatte, erst gelernt, was es hieß, wenn Menschen sich diskriminiert fühlten. Manchmal waren es kleine unbedachte Bemerkungen ihrerseits, die Leif verletzten. Sie konnte sich also sehr gut vorstellen, wie es in einem Haushalt herging, in dem die Tochter sich gegen Klimawandel engagierte und der Vater Manager in einem Energieunternehmen war. Sie wechselte deshalb das Thema.
»Im Protokoll habe ich gelesen, dass Merle vielleicht gar nicht nach Hause fahren wollte, sondern zu einer Party?«
»Inez«, Fredrick wies mit dem Kinn auf seine Frau, »hat etwas von einer Party gesagt. Sie war sich nicht sicher. Habt ihr etwas …?«
»Ole hat mit den meisten Freunden gesprochen«, antwortete Helle. »Aber keiner wusste etwas von einer Party. Das heißt natürlich nicht, dass es keine gegeben hat. Aber vielleicht mit anderen Leuten, wir sind da dran.«
»Die Stelle, wo man sie gefunden hat …«, tastete sich Inez vor.
Helle nickte. »Ja, natürlich. Im Sommer ist da immer eine Menge los, nachts. Und manchmal feiern da auch Leute in der kalten Jahreszeit. Allerdings haben wir in näherer Umgebung keine Spuren von einem Fest gefunden. Flaschen, Feuerreste. Selbstverständlich suchen wir noch weiter.«
»Ich weiß, das klingt naiv«, sagte Fredrick. »Aber Merle hat nicht viel Alkohol vertragen. Sie hat deshalb kaum getrunken. Also, diese 1,7 Promille … ich kann es mir nicht erklären.«
»Das sagen wahrscheinlich alle Eltern von ihren Kindern.« Inez sah Helle an.
»Ich weiß noch, als Leif zum ersten Mal vollkommen betrunken nach Hause kam«, erzählte Helle. »Er war vierzehn. Mein kleiner Junge. Und dann musste ich ihn vom Schulfest abholen, er hat gestunken wie eine Flasche Schnaps und die ganze Nacht über der Kloschüssel gehangen. Ich wollte es nicht glauben. Er war doch noch so klein.«
Inez versuchte ein zerbrechliches Lächeln. Es gelang ihr nicht. »Wie geht es ihm? Merle hat erzählt, er ist in Aalborg?«
Helle nickte. »Ja. Er macht eine Ausbildung. Veranstaltungstechnik. Also, ich höre nicht so oft von ihm.«
»Sie hat Gras geraucht«, ließ sich Fredrick vernehmen und räusperte sich. »Sie meinte, das sei nicht so schlimm wie Alkohol. Na ja, ich war alles andere als begeistert.«
»Verstehe. Ja, also, wir werden sehen …« Helle starrte auf ihr Wasserglas und wusste nicht weiter.
Verdammte Sprachlosigkeit.
»Sucht ihr nach ihren Sachen?«
Helle blickte betreten zu Boden. »Ja, natürlich.« Sie wollte den beiden nicht sagen, dass sie kaum Leute zur Verfügung hatte. Einen richtigen Suchtrupp konnte sie nicht zusammenstellen, jedenfalls nicht, solange die Beweislage für ein Gewaltverbrechen so dünn war. Ayuna hatte die Suche heute nach Einbruch der Dunkelheit vorerst eingestellt. Wie sie morgen weitermachen wollten, stand noch zur Diskussion.
»Ich würde mir jetzt gerne ihr Zimmer ansehen.«
Inez nickte und stand auf.
»Ich hole meinen Kollegen dazu, wenn das okay ist?«, fragte Helle mehr rhetorisch. Sie waren verpflichtet, Durchsuchungen immer zu zweit vorzunehmen.
»Natürlich.«
Merles Zimmer lag im ersten Stock des Hauses, eine Kerze stand im Fenster. Inez führte Helle und Ole hin, aber einige Schritte vor dem Zimmer blieb sie stehen.
»Helle, ich …« Die Stimme versagte ihr und dann die Beine. Inez glitt einfach zu Boden und blieb, den Rücken an der Wand, sitzen.
»Schon gut«, sagte Helle und hockte sich daneben. »Wir gehen allein.« Etwas lauter rief sie nach Fredrick, der sofort die Treppe hochkam. Ohne ein Wort zu sagen, fasste er seiner Frau unter die Arme, zog sie sanft hoch und half ihr die Treppe wieder hinunter.
Ole hatte Helle stumm angesehen, eine Situation wie diese mussten sie in Skagen nicht alle Tage bewältigen, zum Glück.
Sie streiften sich die Einmalhandschuhe über, machten Licht im Zimmer und sahen sich um.
Bevor sie irgendetwas mit der Hand anfasste, versuchte Helle, sich den Eindruck, den das Zimmer auf sie machte, genau zu merken. Es war ein schönes Zimmer. Unaufgeräumt, aber freundlich. Viele Pflanzen, Sukkulenten und Kakteen, Lichterketten, an die Wand gepinnte Konzertkarten, Fotos – immer eine lachende Merle, mal mit, mal ohne Freunde – und überall Statements. Zum Thema Klimakrise, Tierwohl und Fleischkonsum, aber auch LGBTQ oder #MeToo. Nichts Auffälliges. Nichts, was Helle nicht aus den Zimmern ihrer eigenen Kinder kannte. Es war das Zimmer einer jungen Frau, die sich für bestimmte Themen interessierte, aber auch ein reges Sozialleben führte, die es gerne gemütlich hatte und Pflanzen liebte. Auf den ersten Blick offenbarten sich keine Abgründe. Helle begann mit der Durchsuchung.