Diamond Legacy. Juli Summer
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Ich höre die Haustür ins Schloss fallen.
„Bin zu Hause“, ruft Mum.
Es fühlt sich gut an, nicht mehr allein zu sein. Gemütlich sitzen wir nebeneinander vor dem Fernseher. Seit wir wieder in Deutschland sind, ist Mum wie ausgewechselt und zwischen uns herrscht Waffenstillstand. Gegen zehn beobachte ich, wie ihr Kopf in immer kürzer werdenden Abständen zur Seite kippt. Ich stupse sie amüsiert an.
„Ich sollte mich schlafen legen. Wird wieder ein langer Tag.“
Mum arbeitet Vollzeit in einem Restaurant. Einige Monate nachdem wir damals aus Amerika hergezogen sind, hat sie die Stelle bekommen. Zuvor hatte sie sich von Job zu Job gehangelt. Ihr Talent und ihre Begeisterung fürs Kochen blieben vom Chefkoch nicht lange unentdeckt. Und auch ihre mandelförmigen Augen fanden seinen Zuspruch. Mum und Mario verliebten sich ineinander. Er ist ein lieber Kerl und tut ihr gut. Und zusammen versorgen mich die beiden mit köstlichem Essen.
Kurz nachdem Mum in ihrem Schlafzimmer verschwunden ist, gehe ich ebenfalls ins Bett. Achtlos werfe ich Jeans und Pulli auf meinen Schreibtischstuhl. Ich schlüpfe unter die Decke und ziehe sie bis zum Kinn. Lange liege ich wach, der Jetlag und die Ereignisse der vergangenen Tage machen mir zu schaffen. In der Stille und Dunkelheit meines Zimmers kommen auch die Bilder zurück. Der fremde Mann im Central Park. Hat er mich wirklich verfolgt? Und was war heute in der U-Bahn? Alles nur Einbildung? Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich da in etwas hineingeraten bin. Oh Mann Greta, das macht doch alles keinen Sinn. Entschlossen schiebe ich meine Gedanken auf die Seite. Irgendwann kämpft sich die Müdigkeit bis in meinen Kopf durch. Dankbar gebe ich mich ihr hin.
Der Wecker reißt mich aus dem Schlaf. Hinter den Vorhängen hat die Nacht den Himmel noch nicht freigegeben. Erschöpft von einem unruhigen Schlaf tapse ich ins Badezimmer. Das kühle Wasser der Dusche weckt meine Lebensgeister nur im Ansatz. Ich hatte gehofft, mit dem Beginn eines neuen Tages Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Doch die Fragezeichen sind nicht weniger geworden. Ohne Evelyn wird sich daran auch so schnell nichts ändern.
Wüsste ich mehr über unsere Familiengeheimisse, wenn mein Leben in New York stattgefunden hätte?
Nur vier Wochen nachdem Dad und mein Bruder Aaron bei dem Autounfall starben, brach Mum alle Zelte hinter sich ab und kehrte mit mir nach Deutschland zurück. Damals war ich vier. Ich erinnere mich nicht mehr an diese Zeit. Genauso wenig wie an meine Großeltern. Immer wenn dieses Thema auf den Tisch kam, hat Mum dasselbe erzählt. Schon als Dad noch lebte, haben sie sich von ihnen distanziert. Als fanatisch und realitätsfremd hat Mum sie bezeichnet. Naja, wenn man lang genug nur Schlechtes von Menschen hört, verliert man irgendwann das Interesse. Bis Evelyns Brief eintraf.
Ich nehme ein Glas aus dem Badezimmerschrank, fülle es mit Wasser und werfe eine Aspirin hinein. Während die Tablette sich zischend auflöst, überlege ich, was mit dem Ring geschehen soll. Auf keinen Fall lasse ich ihn aus den Augen. Nicht, solange ich nicht weiß, was genau es mit ihm auf sich hat. Warum hat Evelyn ihn mir gegeben? Was meinte sie damit, als sie sagte, es sei mein Schicksal? Ich bin durcheinander. Einmal mehr wird mir klar, wie wenig ich sie kenne. Doch trotz allem habe ich ihr gegenüber eine gewisse Sympathie empfunden. Aber wenn der Ring tatsächlich etwas Besonderes ist, warum meldet sie sich nicht und erklärt mir seine Bedeutung? War es am Ende nicht Intelligenz, sondern vielleicht Kälte, die das Blau in ihren Augen so klar hat aussehen lassen? Daran will ich nicht glauben und nehme mir vor, sie am Nachmittag erneut anzurufen. Irgendwann muss doch mal jemand ans Telefon gehen.
Ich krame in meinem Schmuckkästchen nach einer etwas längeren Gliederkette. So kann ich den Ring am Körper tragen, ohne dass er für jeden gleich sichtbar ist. Ich binde mir die blonden Haare zum Pferdeschwanz. Ein letzter Blick in den Spiegel. Sollte gehen.
In der Küche treffe ich auf Mario. Gutgelaunt umarmt er mich. „Guten Morgen, Greta. Ihr habt gestern beide schon geschlafen, als ich nach Hause gekommen bin. Schön, dass ihr wieder heil gelandet seid. Was darf ich dir anbieten? Kaffee? Toast?“
„Sehr gern.“ Ich sehe ihm dabei zu, wie er mit geübten Fingern mein Frühstück zubereitet.
Inzwischen ist Mario so etwas wie ein Ersatzvater für mich und weil er und Mum unter der Woche in der Regel später aufstehen und ich normalerweise allein frühstücke, koste ich die Zeit bis auf die letzte Minute aus.
Als ich im Flur in meine Turnschuhe schlüpfe, öffnet sich Mums Schlafzimmertür. Müde lächelt sie mich an. Dann verliert sich ihr Lächeln. Ihre Gesichtszüge wirken wie versteinert. Die Augen sprühen vor Zorn. Verwirrt starre ich sie an.
„Was ist das da um deinen Hals?“, zischt sie.
Im ersten Moment weiß ich nicht, wovon sie spricht. Dann fällt mir der Ring ein. Erst da merke ich, dass die Halskette unter meinem Shirt hervorgerutscht ist. Das hat ja bestens funktioniert. Ich seufze innerlich. Wappne mich gegen eine Auseinandersetzung.
„Greta, warum hast du dieses Ding noch?“
„Weil ich ihn nicht in den Briefkasten geworfen habe. Evelyn hat ihn mir geschenkt.“
„New York war ein Fehler. Vergiss Evelyn. Sie vergiftet deine Gedanken. Nimm ihn ab und gib ihn mir! Sofort!“ Ihre Stimme duldet keine Widerworte.
Trotzdem erwidere ich: „Es ist nur ein Ring und er gehört jetzt mir.“
„Greta, benimm dich nicht wie ein trotziges Kleinkind! Gib mir den Ring!“
„Du benimmst dich wie ein Kind. Schon in New York warst du unerträglich. Wenn ich dich frage, antwortest du nicht. Bist stur ohne Ende. Ich bin deine Tochter. Ich kann auch stur sein.“ Demonstrativ umschließe ich den Ring mit meinen Fingern. Fast im selben Augenblick strömt ein Kribbeln durch meinen Körper, ein Windstoß fährt durch meine Haare und hinter Mum fällt die Schlafzimmertür mit einem lauten Knall ins Schloss.
Erschrocken dreht sie sich um. Ich nutze den Moment der Ablenkung, lasse den Ring wieder unter meinem Shirt verschwinden, greife nach Jacke und Tasche und rausche aufgewühlt aus der Wohnung.
Auf der Straße bleibe ich kurz stehen, versuche mir einzureden, dass das, was gerade geschehen ist, Zufall war. Doch noch immer spüre ich ein leichtes Vibrieren in mir nachhallen. Was hat das alles zu bedeuten, und warum reagiert Mum derart aggressiv? Hasst sie Dads Eltern so sehr, dass sie mir nicht mal ein Erbstück gönnt? Oder weiß sie vielleicht sogar mehr über den Ring? Verdammt, wenn sie doch nur nicht jedes Mal gleich an die Decke springen würde, sobald es um meine Großeltern geht. Wie gern würde ich ihr Fragen stellen. Sie ist außer Evelyn die Einzige, die mir Antworten geben kann. Heute Abend werde ich versuchen, ihr ein paar davon zu entlocken. Hoffentlich hat sie sich bis dahin wieder beruhigt.
Die Straßen sind vollgestopft mit Autos. An den Ampeln geht es nur stoßweise voran. Auch auf dem Bürgersteig herrscht Hochbetrieb. Im Zickzackkurs laufe ich um entgegenkommende Menschen herum. Bei dem Wetter und dazu um die Uhrzeit, sind die Gesichter tief in Jacken und Schals vergraben. Trotzdem bilde ich mir ein, ihre Blicke auf mir zu spüren. Nicht nur wegen des Schreckens in der U-Bahn vom gestrigen Tag. Es ist eigenartig, aber vielleicht liegt es daran, dass ich das Gefühl habe, mich selbst von außen zu beobachten. Irgendetwas geht in meinem Leben vor sich, nur ist es nicht greifbar.
„Hey, wie geht’s dir?“ Lara nimmt mich in den Arm.
„Keine Ahnung“, gebe ich ehrlich zu.
„Ich konnte auch die halbe Nacht nicht