Clans von Cavallon (2). Der Fluch des Ozeans. Kim Forester
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Nicht solange Aquoro nicht bei uns ist. Die Sorge um ihren Bruder saß Aquilla wie ein Stein im Huf und ließ ihr keine Ruhe. Was ihr am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wo er steckte. Er war einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.
»Die Saga vom Krieg von Cavallon!«, rief Zadia, ein junges Fohlen mit weißen Flügeln, als die Saga von der Schlacht in den Splittern zu Ende war. »Papa, erzählst du sie uns?«
Ihr Vater – Baros, ein imposanter Pegasus mit gelbem Fell – stimmte die Geschichte an. Aquilla versuchte, ihre anhaltende Sorge beiseitezudrängen, und passte ihren Flügelschlag dem Rhythmus seiner tiefen Stimme an. Er erzählte von der Dürre und der Hungersnot und von den gewaltigen Anstrengungen, die die Pegasus auf sich genommen hatten, um den Rest Cavallons mit Wasser aus den Bergen zu versorgen – ein nobles Ansinnen, das letztlich jedoch zum Scheitern verurteilt war.
»Die saftigen grünen Landschaften verdorrten zu unfruchtbaren Einöden«, trug Baros vor. »Unter den anderen Clans brach ein Raunen los: Es hieß, die Pegasus behielten das Wasser ganz für sich. Bald kamen Gerüchte auf, dass die Pegasus die Sterne um diese Dürre gebeten hatten, weil sie die anderen Clans auslöschen wollten. Und so schickten sie eine Armee nach Norden.«
Die anderen Pegasus sprachen die Geschichte leise mit. Ihr Tonfall war jetzt ernst und gedrückt, wie es die traurigen Ereignisse verlangten. Auch Aquilla flüsterte die vertrauten Worte, die sie wie ihre eigenen Federn kannte.
Auf ihrem Rücken stieß Jaren ein abfälliges Grunzen aus. »Also, wir Menschen kennen die Geschichte anders«, raunte er und beugte sich vor, damit nur Aquilla ihn hören konnte. »Wir glauben, dass eine Entführung der Auslöser für den Krieg war. Die Pegasus haben doch einen Menschen verschleppt, oder nicht?«
Aquilla drehte den Kopf nach hinten und blickte ihn entrüstet an. »Eine Entführung? So etwas würden Pegasus nie tun.«
Jaren zuckte mit den Schultern. Seine zotteligen braunen Haare flatterten im Wind. »Das ist so lange her, das spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr.«
Aquilla sah wieder nach vorne. Jaren musste sich irren. Seine Version der Geschichte konnte nicht stimmen, oder doch? Trotzdem fiel sie nicht wieder in den Singsang der anderen ein, als sie die Saga zu Ende erzählten.
Als Baros’ Stimme wie die Flügelschläge ihrer ins Exil vertriebenen Vorfahren im Wind verhallte, machte Zadia in der Luft einen Purzelbaum. »Noch mehr! Ich will noch eine Saga!«, rief sie und flatterte mit ihren kurzen Flügeln. Schwungvoll schloss sie zu Aquilla auf. »Erzählst du uns die Saga von dem Menschen, der zum Pegasus wurde? Bitte?«
»Dem Menschen, der was wurde?«, fragte Jaren.
Aquilla lachte. »Sie meint die Geschichte über dich, du Dussel.« Zu Zadia sagte sie: »Ich glaube, diese Saga braucht einen schöneren Namen. Jaren hat sich ja nicht verwandelt. Die Ältesten haben ihn in unsere Herde aufgenommen, weil in ihm das Herz eines Pegasus schlägt, und das schon immer.«
Zadia musterte Jaren nachdenklich. »Ja«, antwortete sie schließlich. »Das sehe ich.« Jaren lachte erfreut.
Aquilla holte tief Luft und sammelte ihre Gedanken. Sie hatte noch nie als Erste eine neue Saga erzählt – das war ein großes Ereignis im Leben eines Pegasus. Sie räusperte sich. »Dies ist die Saga von Jaren«, begann sie. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Stimme klar und fest klang. »Einem tapferen Menschenjungen aus einem kleinen Bergdorf, der sich auf die Suche nach dem Abenteuer machte.« Sie drehte sich zu Jaren um, dessen Augen vor Freude funkelten. »Er kletterte gerade einen steilen Berghang hinab, als ein fürchterlicher Sturm losbrach …«
Die anderen kamen dichter herangeflogen, um Aquilla zu lauschen, während sie beschrieb, wie sie und Jaren sich in der Berghöhle begegnet waren, wo sie beide vor dem Unwetter Schutz gesucht hatten. Zadia wiederholte jeden Satz mit großem Ernst und Aquilla stellte sich vor, wie die kleine Pegasusstute die Geschichte in einigen Jahren selbst an die jüngsten Fohlen der Herde weitergeben würde. Der Gedanke erfüllte sie mit Stolz.
Als Aquilla zu der Stelle kam, wo die Zentauren Jaren einsperrten, stieg die Angst, die sie ausgestanden hatte, plötzlich wieder in ihr hoch und ihr versagte die Stimme.
Jaren übernahm für sie. »Sie steckten mich – ich meine, Jaren – in eine winzige Zelle mit einem winzigen Fenster, das so weit oben war, dass er es nicht erreichen konnte. Er dachte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, doch dann hörte er lautes Getöse und wisst ihr, was? Aquilla war gekommen, um mich zu retten! Ich meine, ihn.« Seine Worte klangen nicht ganz so feierlich, wie es für eine Saga üblich war, aber das hielt die anderen nicht davon ab, gebannt zuzuhören.
»Doch die Wachen der Zentauren führten Jaren fort«, erzählte Aquilla weiter, die ihre Fassung wiedergefunden hatte. Sie verwob ihre Geschichte geschickt mit der Saga von der Schlacht in den Splittern, wo Jaren das gegnerische Heer bewusst in die Irre geleitet hatte, sodass die Pegasus die feindlichen Clans besiegen konnten, indem sie erst eine Schneelawine und dann einen Felssturz auslösten. »Und auch der Felssturz, der den Pegasus den Sieg brachte, war Jarens Idee gewesen«, schloss Aquilla. »Als Zeichen ihrer Dankbarkeit und Wertschätzung machten die Pegasus ihn zu einem der ihren. Und so war Jaren der erste Mensch in der Geschichte Cavallons, der Teil einer Pegasusherde wurde.«
»Sehr schön erzählt, Aquilla. Und du auch, Jaren. Eine ausgezeichnete erste Saga«, lobte Odelia, eine Älteste mit goldenem Fell. Sie war den ganzen Tag vorneweg geflogen, hatte sich nun aber zurückfallen lassen, um Aquillas Erzählung zu lauschen.
Die anderen stimmten Odelia zu und Aquilla nahm ihre Glückwünsche mit einem dankbaren Nicken entgegen. Trotz aller Bescheidenheit konnte sie ihre Freude darüber nicht ganz verbergen. Sie blickte sich zu Jaren um – er grinste von einem Ohr zum anderen. Wir sind ein gutes Team, dachte sie.
Ein leises Wiehern lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder an die Spitze der Gruppe, wo Rostro, Erster der Herde, sich zu den anderen umgedreht hatte. Seine graue Mähne tanzte im Wind, während er kraftvoll mit den Flügeln schlug, um sich auf der Stelle zu halten. Die Herde scharte sich um ihn, damit ihn alle hören konnten.
»Unsere Suche nach einem neuen Nachtlager hat uns über weite Strecken und an viele Orte geführt«, sagte Rostro, »und doch haben wir nichts gefunden, was unseren Bedürfnissen entspricht. Ich fürchte, uns bleibt nur noch eine Option – die Flügelbruchspitze.«
Ein entsetztes Raunen ging durch die Herde. Die kleine Zadia vergaß vor Schreck, mit den Flügeln zu schlagen, und sackte einige Pegasuslängen in die Tiefe, bevor sie in einen Luftstrom geriet, der sie sanft wieder aufwärtstrug.
Stirnrunzelnd flog Odelia zu Rostro und flüsterte ihm etwas zu. Ihre flachsgoldene Mähne war vom Wind ganz zerzaust.
»Was ist so schlimm an der Flügelbruchspitze?«, fragte Jaren Aquilla mit gesenkter Stimme. »Abgesehen vom Namen, meine ich.« Aquilla musterte ihn über ihre Schulter hinweg. Bei allen Sternen, die Menschen wissen wirklich nichts über den Krieg von Cavallon.
»Dort haben unsere Vorfahren ihre Waffen niedergelegt«, erklärte sie. »Sobald das Friedensabkommen unterzeichnet war, sind sie dorthin geflogen, haben ihre Waffen auf dem Gipfel gelassen und geschworen, nie wieder in den Kampf zu ziehen.«
Jaren stieß ein leises Pfeifen aus. »Das heißt – die Waffen sind alle noch da?«
»Das nehme