Der Dozent. Stefan Meier
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„Dann kann er mal ganz stark darauf vertrauen, dass wir uns heute das letzte Mal sehen.“ Heike gab sich inzwischen nicht mal mit dem Flüstern Mühe. Selbst Sandy lächelte nur müde. Herr Schmidt verließ seine Position hinter dem Tisch und ging langsamen Schrittes auf Heike zu. Während er sich auf sie zu bewegte, wurde es still und seine freundliche Miene wich einem ausdruckslosen Blick.
„Ich wundere mich –, ob sie auch die Courage haben, es mir direkt ins Gesicht zu sagen, meine Teuerste“, seine Stimme klang langsam, aber deutlich.
„Ich, ääähh …“
„Genau, das dachte ich mir. Also jetzt halten Sie Ihre große Klappe und hören zu.“ Das hatte gesessen! Im Kurs brach Gelächter aus, allen voran Jakob. Er wäre am liebsten aufgestanden und hätte Herrn Schmidt ein High five angeboten. In einem Cartoon würde ihr Kopf jetzt dunkelrot anlaufen und Dampf aus den Ohren schießen, aber sie hatte sich lediglich still zurückgelehnt und die Arme verschränkt. Das reichte Natalie, gut genug.
„Jetzt kommt der Teil über Ihre Prüfungsleistungen, die Sie alle ableisten müssen, egal ob Sie anwesend sind oder nicht.“ Seine Mimik war wieder ins Freundliche gewechselt. „Zu zwei Sitzungen, die Sie selber wählen dürfen, sollen Sie je ein Protokoll anfertigen, das die wichtigsten Aspekte aus den Texten und der Plenumsdiskussion zusammenfasst. Am Ende des Protokolls sollen Sie für sich persönlich die genannten Aspekte abwägen und ein Fazit formulieren. Jedes Protokoll hat einen Umfang von zehn bis zwölf Seiten. Standardformatierung.“ Lilly musste unweigerlich Jakob angrinsen, der sein Gesicht in den Händen vergraben hatte. „Eine Serifenschrift Ihrer Wahl, Schriftgröße zwölf, eineinhalbfacher Zeilenabstand …, ja bitte …?“
Heikes Hand war in die Luft geschnellt. „Aber letztes Jahr mussten die Studenten nur eine Hausarbeit mit einem zehnseitigen Umfang schreiben.“
„Dann freuen Sie sich, dass Sie bei mir mehr lernen dürfen.“
Nun rollte sie mit den Augen. „Und Professor Fischer-Martinsen hat das als Modulverantwortlicher abgesegnet? Schließlich ist er Ihr Vorgesetzter.“
„Hat er. Ich bin für diese Veranstaltung der Prüfer und darf die Prüfungsleistung selbst festlegen. Lassen Sie das meine Sorge sein und konzentrieren Sie sich auf Ihr Studium.“
Heike ließ nicht locker. „Sie haben vorhin aber richtig gesagt, dass Sie keine Anwesenheit kontrollieren dürfen. Nun fordern Sie aber, dass etwas, das im Kurs besprochen wird, Teil der Prüfungsleistung sein soll! Ist das überhaupt rechtens?“, quiekte Heike mit selbstsicherem Lächeln.
„Ihre Anwesenheit wird dadurch nicht kontrolliert. Sie haben dieses Semester dreizehn Termine und bei minimal zwei davon müssen sie präsent sein und sich Notizen machen.“
„Und das Hochschulgesetz? Das werde ich prüfen lassen. Mein Vater ist Anwa –“.
„Professor Fischer-Martinsen hat mich bereits vor Ihnen gewarnt“, unterbrach Max Schmidt sie. Heikes Gesicht nahm die Farbe einer reifen Tomate an. „ Nein, das ist nicht richtig. Warnen impliziert, dass ich mit Ihnen einen Grad ernstzunehmender Gefahr assoziiere – was ich allerdings nicht tue.“ Seine Stimme hatte einen beinahe gelangweilten Ton angenommen. „Sie scheinen zu der Art von Studierenden zu gehören, die man unter der Kategorie special snowflake einordnen würde.“
„Was erlauben Sie sich?“, kreischte Heike. „Warten Sie nur ab, bis –“
Er lief zu Hochtouren auf. „Kaum am Meckern, sobald ein bisschen mehr Leistung gefordert wird?“ Seine Stimme ging ins Lachen über. Einige Studierende, auch Sandy, taten sie ihm gleich. „Und dann vergleicht man sich mit den Studierenden von vor einem Jahr. Ganze zehn Seiten weniger! Donnerwetter! Zehn! Jetzt packen Sie als letzte Verteidigung ihr gefährliches Halbwissen um das Hochschulgesetz aus. Wissen Sie überhaupt, was da außer der Anwesenheitspflicht noch drinsteht? Ihre Pflichten als Studierende! Aber Hauptsache, dann kommen Sie dann noch mit Ihrem Papi-Anwalt!“, er machte eine kurze Pause und atmete tief ein. „Ich schlag Ihnen etwas vor. Erstens, Sie können meinen Kurs verlassen und hoffen, dass nächstes Semester jemand anderes ihn anbietet, der zehn Seiten weniger fordert. Zweitens, Sie können Papi zur Rate ziehen und ich involviere das Prüfungsamt und Professor Fischer-Martinsen. Wir diskutieren in aller Ruhe aus, wer Recht hat. Allerdings haben wir Wichtiges zu tun und der Prüfungsausschuss würde vor Jahresende, also weit nach dem Ende des aktuellen Semesters, kein Urteil fällen. Oder drittens: Sie benehmen sich so, als wären Sie einigermaßen volljährig und zurechnungsfähig, und kommen Minimum zwei Mal in meine Veranstaltung. Sie müssen auch nicht aktiv an den Diskussionen teilnehmen. Einfach in der Ecke sitzen, schmollen und Worte mitkitzeln genügt und am Ende legen Sie mir ihre Protokolle vor. Protokolle, Plural. Mit einem Umfang von je zehn bis zwölf Seiten.“
„Alter Schwede“, sagten Felix und Jakob beinahe synchron. Jakobs Augen glitzerten. Waren das Tränen? Scheinbar hatte er in Herrn Schmidt seinen Seelenverwandten gefunden, wenn es darum ging, Heike eins auszuwischen. „Der Typ ist aber cool drauf …!“
Heike war indessen still geworden, sehr still. So hatte noch niemand mit ihr geredet. Nicht mal ihre Eltern durften bei dir diesen Ton anschlagen. Aber dieser Dozent hatte es gewagt und es wirklich getan. Sie saß benommen auf ihrem Stuhl. Die anderen Kursteilnehmer waren teils schockiert, teils unheimlich amüsiert über seine Aktion.
„Geschieht ihr recht“, sagte Lilly und beugte sich zu Natalie.
„Ja“, kicherte sie zurück. „Einen Charakterzug, den ich beim Essen noch nicht wahrgenommen habe. Das Semester wird großartig. Wenn Heike nicht mehr auftaucht, haben wir Ruhe vor ihr, und wenn sie kommt … du hast ja eben gesehen, was denn passiert …“
Herr Schmidt wandte sich wieder, sichtlich belustigt, dem restlichen Kurs zu. „Die Abgabe für die Protokolle ist Ende August. Semesterende. So, machen wir jetzt noch ein bisschen Theorie.“
***
Die nächste halbe Stunde gab er einen theoretischen Input. Einige Definitionen, ein paar aktuelle Untersuchungen und einen kleinen Videoausschnitt. Es war sehr interessant gehalten. Dann klappte er den Laptop zu. „Heute wollte ich mit Ihnen nur das Organisatorische und ein kleinwenig Theorie besprechen. Machen wir für heute Schluss. Genießen Sie Ihren Feierabend und bis nächste Woche!“
Die Studierenden klopften zur Verabschiedung mit den Fingerknöcheln auf den Tischen. Nur Heike nicht. Sandy klopfte leise und wollte offensichtlich nicht den Zorn ihrer Sitznachbarin heraufbeschwören. Jakob klopfte noch weiter, als die anderen bereits aufgehört hatten. Ja, definitiv sein Seelenverwandter. Die Nachmittagssonne schien in den Raum und tauchte ihn in ein gleißendes Gelb. Es war nicht mal drei Uhr. Der Großteil der Studierenden hatte den Raum bereits verlassen. Heike war die Erste gewesen. Herr Schmidt friemelte die Kabel wieder vom Pult und Laptop, rollte sie sorgfältig zusammen und verstaute sie in seinem Rollkoffer.
„Ich hoffe, das war nicht zu doll.“ Er drehte sich zu den vier Freunden. Sein Blick fiel auf Natalie. „Ich hatte eine Ahnung, dass Sie in meinem Kurs sein würden. Sorry, während der Arbeit werde ich Sie leider siezen müssen.“
„Das – war – super“, betonte Jakob und glich einem pubertären Mädchen auf einem Justin Bieber Konzert.
„Das musste einfach mal gesagt werden“, bestätigte ihn Felix. „Die macht das in jedem Kurs und geht allen