Der Dozent. Stefan Meier
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„Guten Morgen, ich begrüße sie alle ganz herzlich zu meiner Veranstaltung Rituale in der Kindertagesstätte und Grundschule. Mein Name ist Professor Kurt Lempertz“, sagte er in einem erfrischend fröhlichen Ton. „Schauen Sie sich bitte das Bild an. Beschreiben Sie bitte, was sie sehen.“
***
Den größten Teil der Vorlesung wurde über das Bild geredet. Es lief zunächst auf das Thema soziale Ungleichheit hinaus. Prof. Dr. Kurt Lempertz rief die nächste Folie auf, auf der die Studierenden einer Statistik entnehmen konnten, dass Eltern im Schnitt etwa fünfzig Euro für die Schultüten samt Inhalt ausgeben. Es wurden Erfahrungsberichte gezeigt, die die Inhalte von Schultüten auflisteten: Süßigkeiten führten die Liste an, gefolgt von Schulsachen, Spielzeug und Kuscheltieren. Einige Eltern setzten noch einen drauf. Gutscheine für Media Markt oder Saturn und sogar das neuste iPhone.
„Bah, immer diese reichen Blagen. Einige Eltern werfen echt mit Geld um sich“, beschwerte sich Jakob.
Natalie erinnerte sich an ihre Schultüte. „Meine Mama hat meine Schultüte selbst gebastelt und sie hat Malkreide, Lakritze, ein Pixie-Buch und ein Teddy-Schlüsselanhänger hineingetan, aber doch kein Handy!“ Die drei lachten laut.
Und so wurde eine Diskussion entfacht, ob man den Eltern einen preislichen Rahmen vorgeben sollte. Nach einer hitzigen Debatte, die keinerlei Ergebnisse erzielte, machte Professor Lempertz weiter und listete einige Rituale in der Grundschule auf. Der Morgenkreis und der Erzählstein, um nur einige zu nennen. Anschließend war die erste Veranstaltung des neuen Semesters zu Ende.
Natalie blickte auf ihre Notizen und musste sich eingestehen, dass sie nur im Mittelfeld lag. Jakob hatte lediglich den Namen der Veranstaltung aufgeschrieben, weiter nichts. Den Großteil der Zeit verbrachte er mit seinem Handy unter dem Tisch. Lilly hingegen legte die Messlatte wieder einmal sehr hoch. Fünfeinhalb Seiten. Selbst jedes Argument während der Diskussion wurde notiert.
„Streeeber …“, flüsterten Natalie und Jakob synchron ins Ohr und Lilly zuckte zusammen. „Jaja, lasst mich.“
Sie packten ihre Sachen zusammen und folgten dem Strom von Studierenden aus dem Audimax. Natalie hatte heute Morgen noch nichts gegessen und ihr knurrte der Magen.
„Kommt ihr mit in die Mensa? Ich sterbe vor Hunger!“
„Tut mir leid, ich habe jetzt Zahlentheorie. Direkt nebenan.“
„Und ich habe jetzt auch eine Veranstaltung – glaube ich. Ich weiß zwar nicht, wo oder was, aber das finde ich auf dem Weg heraus“, grinste Jakob, zückte sein Handy und suchte seinen Stundenplan im Netz. „Haut rein und bis später!“ Dann war er verschwunden.
„Lilly, wie lang bist du heute in der Uni? Zwanzig Uhr?“
„Nein, achtzehn Uhr, Montag ist mein kurzer Tag.“
„Okay, ich bin früher zu Hause und koche vor. Wir hatten uns auf Kartoffelsuppe geeinigt, oder? Viel Spaß, pass auf und verbrauche deinen Collegeblock nicht am ersten Tag.“
„Ja, Mama“, Lilly rollte gespielt mit den Augen. Beide lachten herzlich und ihre Wege trennten sich.
Natalie machte sich auf den Weg zur Mensa, die sich direkt neben dem Hörsaalzentrum befand. Sie stand vor der Auswahl, eine Kleinigkeit wie belegte Brötchen und Muffins an der Theke zu holen oder etwas Warmes zu essen. Da ihr schon ordentlich der Magen knurrte, entschied sie sich für die letztere Alternative und schlenderte zur Speisekarte. Als sie mit dem Studium begonnen hatte, hatte man mit den Begriffen auf der Speisekarte noch etwas anfangen können. Heutzutage blickte man darauf und sah Gerichte wie Gremolata, Bulgur, Karotten-Mango-Konfit und Tofunese. Sie hatte nur eine grobe Vorstellung, was sich dahinter verbarg und war mit ihrem Hunger nicht sonderlich experimentierfreudig. Zum Glück war das letzte Gericht auf der Karte Seelachsfilet mit Salzkartoffeln und sie musste nicht zweimal überlegen, was sie heute essen wollte.
Die Essensausgabe in der Mensa ging glücklicherweise zügig voran. Es waren nur noch ein paar Leute vor ihr, dann war sie an der Reihe. Die Laune der Kantinenmitarbeiterinnen rangierte von sehr freundlich bis Wo-zur-Hölle-bin-ich-hier-nur-gelandet. Die Mitarbeiterin, die Natalie bediente, gehörte zum Glück zu der freundlichen Sorte.
„Zumindest weiß ich hier, was ich bekomme“, hörte sie jemanden sagen.
Natalie drehte sich um. Vor ihr stand ein junger Mann, mit kurzen, dunklen, zotteligen Haaren und lächelte sie an. Einige Krähenfüße waren um die Augen erkennbar, was ihn sympathisch machte. Er trug einen roten Rollkragenpullover, Jeans und weiße Sneaker.
„Bei den anderen Sachen hatte ich absolut keinen Plan, was das sein soll. Gremola-was, bitte?“, sagte er in einem freundlichen Ton.
„Ging mir exakt genauso …“, antworte sie. „Wenn hier bei der Ausgabe nicht dranstehen würde, was welches Gericht ist – ich hätte es nie im Leben zuordnen können.“
„Genau! Wo sind die klassischen Gerichte wie das gute alte Schnitzel mit Pommes oder Hähnchenbrustfilet mit Reis oder eine Portion Erbsensuppe?“
„Das frage ich mich auch.“
„Nächster bitte“, hörte sie von der anderen Seite. Sie drehte sich um und bemerkte, dass sie nun an der Reihe war.
„Na dann, guten Appetit.“
„Vielen Dank, das werde ich haben“, sagte Natalie lächelnd und ging weiter zur Kasse.
„Das macht dann bitte drei Euro und dreißig Cent. Haben Sie eine Karte?“
„Ja, einen Moment.“ Sie öffnete ihr Portemonnaie und suchte nach ihrer blauen Studentenkarte. Die Karte gab es extra, um in der Mensa zu zahlen. Einfach am Eingang aufladen und dann bei der Kasse auf das Gerät halten – fertig. Nur fand sie ihre Karte nicht. Krankenkassenkarte, Führerschein, Personalausweis, Kreditkarte, Debitkarte – alles nur nicht diese verflixte Mensa-Karte! „Ich hab’s gleich …“ Wie unangenehm! Bargeld hatte sie auch keins mit und mit anderen Karten konnte man nicht zahlen.
„Haben Sie sonst Bargeld?“, fragte die Frau an der Kasse höflich.
„Nein, leider nicht und ich finde meine Karte gerade nicht … tut mir leid.“
„Warten Sie, ich mache das schon. Aber dann rechnen Sie meine Portion auch gleich mit ab.“
Sie drehte sich um. Es war der junge Mann von eben. Er reichte der Kassiererin seine Karte. Natalies Blick fiel drauf. Sie war grün. Er war also Mitarbeiter und