Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster
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Den Verlust seines Vaters – so empfindet er momentan, würde er kaum überleben. Das ist die reinste Katastrophe. Ohne ihn, würde er seiner derzeitigen Lebensangst, nicht Herr werden.
„Kurt, ich sagte es dir doch schon, manchmal könnte ich schreien, so sehr vermisse ich ihn.“
“Hast du ihn nach dem Autounfall noch mal gesehen? Als er tot war?“
“Nein, meine Mutter wollte das nicht. Er muss schlimm ausgesehen haben. Das Gesicht total zerschnitten. Als Mutter mir vor 3 Monaten eröffnete: „Wir ziehen nach Rottlingen“, da hatte ich eine große Wut und war verzweifelt
Dieses Kaff, da ist doch nichts los. Und dann liegt es auch noch in der Heide, wo sich Hasen und Füchse gute Nacht sagen. Rottlingen, wer kennt schon Rottlingen?
Ob sich der Kurt überhaupt vorstellen kann, wie schwer mir das fällt, bei keinem Spiel des HSV mehr dabei zu sein? Meinem heißgeliebten Fußballverein.
Mensch, was herrschte beim Spiel seines HSV immer für eine Bombenstimmung. Aber was blieb meiner Mama übrig? Sie musste umziehen. Ob sie wollte oder nicht.
Die Unfallrente meines Vaters ist nur winzig, davon können wir nicht leben. Nun haben wir diese Gärtnerei von Vatis Vater geerbt. Das war ein Segen.
Ich glaube anfänglich wollte Vati auch Gärtner werden. Aber dann hat er sich mit seinem Vater derartig verkracht, da war sein Traum zu Ende.
In Hamburg wurde er ein erfolgreicher Autoverkäufer, bis er sich dann in einem ’Horch’ überschlagen hat. Vor einem halben Jahr. Aus. Tot!
Lange Zeit wollte ich es nicht wahrhaben, ich ertrug es nicht, dass mein Vater nicht wiederkommen sollte. Mir kam es ähnlich vor, wie bei einem Geschäft: Erst erst wenn man zugestimmt hat, ist die Sache perfekt. Und wie kann man von einem 12 Jährigen verlangen, dem Tode seines Vaters zuzustimmen.
Trotz alledem, mal abgesehen vom Tode meines Vaters, der elegante ’Horch’, mit seinen 12 Zylindern, das ist schon ein tolles Auto, ich kenne kein Besseres. Mutter bietet diese Gärtnerei in allen Zeitungen zum Verkauf an, der ganze Betrieb ist mit 20 Tausend RM verdammt preiswert.
Ich würde sie sehr gern behalten. Einen aufregenderen Spielplatz kann man sich kaum vorstellen. Die großen reflektierenden Glasflächen, irgendwie erinnern sie mich an unsere Binnenalster, sogar ans Meer, wenn es mal vergessen hat, zu toben.
Mutter schaut dreimal täglich nach dem Briefträger. Sie kann es nicht lassen. Wie mich das aufregt. Nach Möglichkeit geht sie ihm sogar entgegen. Mutter kann sich eben in Rottlingen nicht eingewöhnen.
Jedes Mal dann die gleiche Enttäuschung. Keine Post, kein Kaufinteressent, niemand will die Gärtnerei haben. Seit einem viertel Jahr verkommt das Gelände langsam, aber stetig. Das Unkraut wächst hier und dort und überall, dass es nur so eine Art hat.
Durch die Schilder:
Achtung Selbstschüsse.
Betreten strengstens verboten!!
an der Hannoverschen Landstraße und an der Feldstraße, traut sich tatsächlich niemand auf das Gelände. Nur Kurt, der Stenz und da finde ich ihn toll, der glaubt nicht an Selbstschüsse. Vom Fenster seines Kinderzimmers kann er die ganze Gärtnerei überblicken.
“Sami, wenn die nach dem Tode deines Opas Selbstschüsse eingebaut hätten, das hätte ich mitbekommen.“ Kurt kennt sich aus in der Gärtnerei. Wie in seinem Kinderzimmer.
Schon als kleines Kind hat er sich hier getummelt. Beim schnurrigen Gärtner Wiese, der seine erdigen Hände so gern am eigenen Hosenboden abwischte und uns damit klarmachte, wie liebenswert ihm jeglicher Mutterboden war.
Für das kleine Kurtchen gehörte es zu seinen ersten beglückenden Fähigkeiten, gelernt zu haben, stets saubere Hände vorweisen zu können. Schwupp, schwupp, er wischte den Dreck gleichfalls an der Spielhose ab. Mutter hatte unglücklicherweise andere Vorstellungen von kindlicher Reinlichkeit und es gab Ärger. Bei allem Hin und Her, Kurt entwickelte sich in dieser Gärtnerei zum Blumen- und Pflanzennarr.
Wer in einer Großstadt aufgewachsen ist, hat in der Regel wenig Ahnung von alledem, was da wächst und rumkriecht. In dieser Beziehung kann ich viel von Kurt lernen. Ich bin so froh, dass es funktioniert hat. Seit einer Woche bin ich in Kurts Klasse. In der 4a des Paul von Hindenburg-Gymnasiums. Anfänglich war ich in seiner Nebenklasse gelandet.
Wenn man in seiner Schulklasse nicht einen einzigen kennt, ist das ganz schön doof. Kurt hat noch drei Geschwister. Diese „Malu“, wie sie in der Familie genannt wird, ist ein ganz steiler Zahn. Zwei Jahre älter, klar, die schaut mich nicht mal mit ihrem schönen Hintern an.
Für die würde ich alles tun. Auf diese Art Mädel stehe ich. Sie ist genau das, was den Sohn meines Vaters um seinen bisschen Verstand bringen könnte.
Blond, blaue Augen und dabei selbstbewusst bis zum ’Geht-nicht-weiter’. Marie-Luise ist bereits eine hochrangige Jungmädelführerin. Irgendwas mit „Ring“. Ich glaube „Jungring, eine Jungmädel-Ringführerin. So jetzt hab ich es! Ich würde auch liebend gern in der Hitlerjugend sein. Mutter will davon nichts wissen.
„Du bist ein Jude“, hat sie zu mir gesagt. „Juden haben in der HJ nichts zu suchen.“ „Wieso?“, hab ich geantwortet. „Wenn man aber von der HJ begeistert ist?“
„Immer erst mal schön nachdenken, ehe man seinen Mund aufmacht“, hat sie mich wütend angefahren. Und sie hat vollkommen Recht.
Im Grunde genommen weiß ich es ja. Von wegen Hass auf Juden, usw. Kurt ist auch in der HJ. Aber im Gegensatz zu seiner übrigen Familie, kann er, wie er mir gestanden hat, der ganzen NS- Bewegung nicht viel Spaß abgewinnen. Kurt ist Individualist. Aufmärsche hasst er; ist eben kein Massenmensch.
Im mittleren, trostlos leeren Gewächshause wollen wir morgen, gleich zu Anfang der langen Ferien beginnen, das dortige 6x2 Meter lange Bassin wieder ganz zu füllen. Ein einziger dicker Goldfisch hat dort überlebt, aber nur, weil Kurt ihn von Zeit zu Zeit fütterte. „Jonas“, hat er ihn getauft. Hat wohl an diesen Menschen in der Bibel gedacht, der von einem Walfisch verschlungen wurde.
“Wenn wir das Bassin prima säubern und schrubben, wir können darin zackig baden, wenn es heiß ist. Für den Goldfisch finden wir vorübergehend auch ne andere Bleibe.“
Kurt hat Recht, aber wer fängt den Jonas? Einfach mit den Händen schnappen, das glitschige Ding, ich könnte es nicht. Der ist so lang wie ein ausgewachsener Hering.
Was glaubst du, wie so ein ’Löke’ zappeln kann.
Kurt ist ein netter Kumpel, wie es aussieht, aber noch kenne ich ihn zu wenig. Mit seinen vielen Sommersprossen auf der Nase erinnert er mich an Eddi, meinen alten Klassenkameraden, der als Sextaner Regenwürmer vor unseren Augen verdrückte und sich somit unsere Hochachtung verschaffte.
“Du Sami, ich hab eine Idee. Ich habe so oft deinen Opa beobachtet, wie er mit diesem Ding, mit dem Lagerhaus dort hinten telefoniert hat. Er hat an dieser Kurbel gedreht und dann konnte man es dort drüben klingeln hören.“
“Na klar, dieser alte Kasten ist ein altes Feldtelefon. Mit dem Drehen der Kurbel erzeugst du den nötigen Strom zum Telefonieren. Aber was willst du mit ihm anstellen?“
“Wenn wir das andere Feldtelefon