Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst. Adolf, Dr. Küster

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Deutschland 1936 - Ein Jahr im braunen Dunst - Adolf, Dr. Küster

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dirigiert mich einige Schritte nach vorn und schon haben wir beide nichts mehr unter den Füssen: Wir fliegen gemeinsam mit weit ausgestreckten Armen vom Zehner. Der Flug, er dauert erstaunlich lange und ich empfinde ihn als wunderbar! Ein mächtiger Aufprall, aber dennoch nicht zu stark. Das kühlende Wasser am Körper ist eine Wucht.

      Wer hätte das gedacht, ich vom Zehner. Ich werde es nie begreifen.

      Ich höre viele Menschen Beifall klatschen, viel mehr als bei Sami und Anita. Aber ich werde den Verdacht nicht los, der Beifall gilt nur ihr.

      „Wie spät haben wir?“

      “Zwanzig vor Sechs.“

      “Schiet, ich muss los.“

      “Ich komme mit.“

      Der Sami hat mir erzählt, dass sich heute um sechs ein Quintaner vorstellen will, der ihn am letzten Schultag auf dem Schulhof angequatscht hat, Mathenachhilfe in den Ferien.

      Ich hab dem Sami zugeraten.

      „Leicht verdientes Geld“, habe ich gesagt.

      Anita hätte ruhig dableiben können, das wäre mir lieber gewesen.

      Es ist die reinste Sünde, bei diesem Traumwetter nach drinnen zu gehen.

      Christa macht nicht die geringsten Anstalten, aufzubrechen.

      Sie hat ihren nassen, dunkelblauen Badeanzug gegen einen buntblumigen gewechselt. Vom Kiosk bringt sie auch für mich ein ’Eis zu Zehn’ mit und eine Rolle Zugspitzkeks, die kostet auch einen Groschen. Sie will unbedingt, dass wir sie uns teilen. Und ich würde liebend gern beides spendieren.

      „Nichts da, wer die Idee gehabt hat, dem gehört sie, basta“

      Es ist eigenartig. Nachdem wir zusammen vom Turm gesprungen sind, und wie sie nun lächelnd und entspannt auf ihrem roten Frotteehandtuch liegt, ist sie mir plötzlich sympathisch. An ihre quietschende Stimme habe ich mich gewöhnt. Ihrer Bastbadetasche hat sie ein Büchlein entnommen und beginnt eifrig zu lesen.

      “Darf man wissen, was du da liest?“

      Wortlos reicht sie mir das Reclam-Bändchen: Mascha Kalėko.

      “Die kenn ich nicht. Muss man die kennen. Sind ja nur Gedichte.“

      “Hast du was gegen Gedichte?“

      „Nee, aber ich kenne keine so richtig.

      Liest du mir mal welche vor?“

      “Nein, nein, wenn, dann musst du es schon selber tun. Man muss sich aktiv damit auseinandersetzen, sonst verpufft die Wirkung jedes Gedichtes.“

      “So, meinst du das? Dann mal her damit.“

      “Nee, Kurt, vorlesen darf man nur, mit viel Verständnis für den Inhalt. Lies dir das Gedicht erst ein paar Mal durch und sprich es mir danach vor.“

      „Jawohl, Frau Lehrerin.“

      “Frechdachs!“

      Mensch, da habe ich mir ja was eingebrockt, und das in den Ferien. Eigentlich ist das gegen meine Überzeugungen. Ich tue nur selten das, was andere von mir wollen.

      ’Ich bin Ich’, habe ich mir immer eingeredet.

      Und nun überrumpelt mich dies. Das Mädchen kann hexen, verhext mich hoffentlich nicht. Ich lese, lese 2mal, 3mal und dann laut:

       Gebet

       Herr: unser kleines Leben – ein Inzwischen,

       durch das wir aus dem Nichts ins Nichts enteilen.

       Und unsere Jahre: Spuren die verwischen,

       und unser ganzes Sein: nur ein Einstweilen.

       Was weißt du, Blinder von des Stummen Leiden!

       Steckt nicht ein König oft in Bettlerschuhn?

       Uns ward bestimmt, zu glauben und zu tun.

       Laß du uns wissen, ohne viel zu fragen.

       Lehr uns in Demut schuldlos zu verzeihen.

       Gib uns die Kraft, dies alles zu ertragen,

       und lass uns einsam, nicht verlassen sein.

      „Pah, ganz schön anspruchsvoll, deine Mascha Kalėko.“

      “Gefällt sie dir?“

      „Ja sie gefällt mir gut, aber es ist nicht meine Welt. Ich mag alles, was mich aufbaut, auf Pessimismus, der nur herunterzieht, kann ich gut verzichten. Bin selbst Pessimist.“

      “Dann scheust du dich wohl auch, ein besonders nachdenklicher Mensch zu sein?“

      “Kann sein. Ich glaube, ich bin einfach nur zu faul.“

      “Schade, ich hätte dir anderenfalls gern erzählt, was mit der Kalėko geschehen ist. Faule sind leider in der Regel unpolitisch, oder?

      Unpolitisch sein ist Zeitkrankheit: Nur über nichts nachdenken!“

      “Nun erzähl schon, bitte, verzeih mir!“

      “Mascha Kalėko, ist eine junge Frau, sie lebt in Berlin.

      Ich bewundere ihre schriftstellerische Begabung, und diesen wachen, kritischen Geist.

      Mascha hat seit einem Jahr Schreibverbot, genau wie Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Heinrich Mann und viele andere, bekannte Schriftsteller. Maschas Werke wurden alle aus unseren Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt.“

      “Tut mir leid, aber von wegen ‛ bekannte Schriftsteller! ’ Da muss ich passen, ich kenne keinen dieser Namen. Und ich glaube, so geht es den meisten Deutschen.

      Weißt du, der Jazz ist offiziell auch verboten, aber hören tun wir ihn trotzdem. Ich könnte gar nicht auf Jazz verzichten. Warum das so ist? Das ist eine Musik, die mich und meine Kumpel in eine andere Welt katapultiert, die uns regelrecht elektrisiert und inspiriert“

      “Zu was denn?“

      “Na, beispielsweise zu Gedichten.“

      “Komisch, ich glaubte, du hättest grundsätzlich was gegen sie. Hast du eines deiner Gedichte auf Lager?“

      “Hätt ich schon, aber hier draußen ist mir das zu doof.“

      “Nun mach schon, sei kein Frosch. Das interessiert mich.“

      “Ach, mir ist alles zu persönlich. Ich kenn dich zu wenig“

      “Je persönlicher, desto besser. Leg schon los.“

       Natur

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