Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama

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Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama

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Kommissar unterwegs war, hielt er es jedoch für ratsam, sich nicht länger an dem Geplauder zu beteiligen. Seine Meinung könnte zu falschen Schlüssen führen und sich als gefährlich für ihn erweisen. Die Geschwätzigkeit des Sägemüllers hatte aber auch etwas Gutes für ihn. So war er an Informationen gekommen, die seinen Plänen dienlich waren. Es wurde Zeit sich zu verabschieden. Lächelnd zuckte er mit den Schultern und sagte: „Meine Herren – es ist der leidige Hoftratsch. Man sollte ihm nicht zu viel Beachtung schenken.“

      Höflich lüftete er den Hut, deutete eine Verbeugung an und ließ die überrascht dreinschauenden Herren auf der Brücke zurück. Bei der Kutsche angekommen löste er zufrieden das Handpferd vom Wagen und schwang sich auf den Pferderücken. „Auf zum Sollinger, mein Freund“, murmelte er und gab dem Pferd die Sporen.

      Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Aristide die Stadt hinter sich ließ und durch das bewaldete Tal in die Sollinger Bergwelt eintauchte. Er hatte vor, Lüchtringen noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Zu seinen Füßen breiteten sich weite, satte und grüne Bergwiesen aus. Über den Bergspitzen lag immer noch ein Rest weißen Schleiers. Silbergrau spiegelten sich unter ihm vereinzelte Floßteiche, auf denen das geschlagene Holz zur Weser und bis in die Leine geflößt wurde. Tief im Wald führte sein Weg vorbei an kleineren, zeltförmigen Köhlerhütten, kreisrunde Gestelle aus Holzstangen, abgedeckt mit Plaggen und Borke. Aus den Löchern an der Spitze, die wie große Hüte anmuteten, zogen dünne Rauchschwaden zum Himmel. Herden von Schweinen und Rindern, die man zur Eichelmast in den Wald getrieben hatte, begegneten ihm. Unwillkürlich musste er dabei an das seltsame Essverhalten des Knaben denken und er überlegte, ob der Junge sich nicht von den Eicheln und dem Gemüse dieser Tiere ernährt haben könnte. Doch rasch verwarf er den Gedanken wieder und versuchte sich mit amourösen Fantasien abzulenken. Dabei musste er an die hübsche Tochter des Armenhausaufsehers denken und obwohl ihm der Wind die Tränen in die Augen trieb, zauberte die Erinnerung an sie ein Lächeln auf sein Gesicht.

      „Sie himmelt mich an, die Grete“, murmelte er geschmeichelt und tätschelte den Pferdehals, ohne zu bemerken, dass er den Hengst mit in sein Selbstgespräch einbezog. Auf seinen einsamen Ritten durch die dichten Wälder wurde das geduldige Tier nicht zum ersten Mal zu seinem engsten Vertrauten. „Aber sie ist noch jung, ein Kindsweib. Vielleicht sollte ich mit ihr eine Liaison anfangen. Vielmehr ist bei dem mittellosen Vater nicht drin. Vielleicht sollte ich sie auch im Auge behalten. Das Weib verschweigt mir etwas. So etwas spüre ich. Sie muss bei dem Knaben etwas gefunden haben. Ich werde ihr auf den Zahn fühlen, sobald ich zurück bin. Es ist zwar nur eine Vermutung, mehr ein Gefühl, aber sollte es sich tatsächlich herausstellen, dass es sich bei dem Wilden um einen Bastard Georg Ludwigs und einer seiner Mätressen handelt, dann habe ich endlich etwas in Händen, um mich an dem König für die Verhaftung meiner Mutter Eleonore zu rächen. Der König weiß nichts von meiner Herkunft. Denn der buckligen Kammerzofe seiner Gattin, Eleonore von Knesebeck, hätte niemals jemand eine Liebschaft zugetraut, geschweige denn einen Sohn. Er weiß nicht, dass ich im Gefängnis geboren wurde und nicht, wie es sich anfühlt, im Waisenhaus aufzuwachsen. Aber ich bin stark und hole mir meinen Platz bei Hofe zurück, dort, wo ich rechtmäßig hingehöre.“

      Bei dem Gedanken an die Entbehrungen seiner Jugend presste er dem Pferd die Sporen in die Flanken. Als das Tier darauf vor Schmerz stieg, tätschelte er ihm den Hals und beruhigte es leise: „Ist ja schon gut. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Während der vierbeinige Freund wieder vertrauensvoll unter ihm dahintrabte, hatte er Muße sich die zurückliegenden Jahre in Erinnerung zu rufen, in denen er um die Rehabilitation seiner Mutter gekämpft hatte, die als Verursacherin allen Übels in der Ehebruchaffäre der Kurfürstin Sophie Dorothea mit dem Grafen Königsmarck gebrandmarkt worden war. Unbewusst strich er sich dabei mit dem Handrücken über die Augen, als versuchte er, die Vergangenheit wegzuwischen. „Glaub mir, mein Brauner“, redete er wieder mit dem Pferd. „Ich bin schlimmer aufgewachsen als ein Hund. Schläge, Läuse, Hunger und Angst waren die Begleiter meiner Kindheit, ohne die Liebe eines Vaters und einer Mutter. Ich weiß nicht einmal, wer mein Erzeuger ist. Wer weiß, was aus mir geworden wäre, hätte mich nicht die Gräfin Clara Elisabeth von Platen aus dem Dreckshaus geholt. Sicher hatte sie die Umstände meiner Geburt herausbekommen. Woher sollte sonst das Interesse an mir, einem Waisenknaben, gekommen sein. Sicherlich diente ich der Gräfin nur als Spielball für weitere Intrigen. Immerhin war sie einst die mächtigste Frau am kurfürstlichen Hof, die Mätresse des Kurfürsten Ernst August von Hannover und die Drahtzieherin in der Königsmarck-Affäre. Mit gerade mal 15 Jahren habe ich mich dann in ihr Bett gelegt. Das war die einzige Liebe, die ich je in meinem Leben erfahren habe. Denn nur über ihr Bett glaubte ich, den Namen meiner Mutter reinwaschen zu können. Intrige gegen Intrige. Die Gräfin war die Einzige, die wusste, was in jener Nacht im Juli 1694 wirklich mit Philipp Christoph Graf von Königsmarck geschah. Für meine amourösen Dienste hat sie mir später auf dem Sterbebett meine Rehabilitation durch ein den König kompromittierendes Schriftstück versprochen. Aber das Dokument verschwand nach ihrem Tod auf mysteriöse Weise und für mich blieb, wie zum Hohn, lediglich der niedrigste Amtstitel der Sicherheitsbehörde. Nun bin ich mit fast 40 Jahren immer noch als kurfürstlich kommissarischer Überprüfer von Vorschriften und Gesetzen in den städtischen Räten unterwegs. Aber ich habe die Hoffnung, Licht in das Dunkel zu bringen, nie aufgegeben. Ich begann, nach dem verschwundenen Brief zu suchen. Doch die Mätresse Georg Ludwigs kam hinter meine Ermittlungen, worauf man mich eiligst, in kurfürstlichem Auftrag, nach Hameln versetzt hat. Aber noch ist nicht aller Tage Abend. Noch ahnt der König nicht, was ich über ihn herausgefunden habe … Denn die Zeitungen lügen nicht. Ich bin mir vollkommen sicher, dass der König allein für den Meuchelmord am Grafen Königsmarck verantwortlich ist, dessen Leiche später in der Leine gefunden wurde. Der Mord ist von vier seiner Höflinge ausgeführt worden; einer, ein katholischer Mönch, der den tödlichen Stich ausgeführt hat, soll dafür eine hohe Abfindung erhalten haben. Nur leider fehlt mir immer noch der Beweis. Aber nun ist dieser wilde Bastard aufgetaucht … Was für ein Geschenk.“ Sein Herz begann vor Freude zu hüpfen, während er den Faden weiterspann, das aufmerksame Ohrenspiel seines Pferdes als Zustimmung wertend. „Ihn hat mir das Schicksal gesandt. Welches Glück für mich, dass der junge Prince of Wales, Georg August, die Opposition gegen seinen Vater schürt. Mit seiner Hilfe wird es mir gelingen, den König und seine Schwester mit einem illegitimen und ausgesetzten Bastard ins Gerede zu bringen. Die britischen Zeitungen werden sich das Maul zerreißen. Wenn ich schon den Mord nicht an die Öffentlichkeit bringen kann, dann wenigstens dieses Gerücht, damit er nicht länger den Thron beschmutzt, der viel besser seinem Sohn anstünde und auf dass ich meine Ehre zurückbekomme.“

      Das Wirtshaus befand sich im Wald, aber noch nahe genug am Wasser für die Flößer und Schiffer, die ihr geschlagenes Holz transportierten und hier ihre Rast einlegten. Ein starker Zaun aus Eichenholz schloss die einstige Köhlerhütte völlig ein. Als Aristide vor dem hohen Tor aus Rundholz vom Pferd sprang, traf er auf ein Mädchen mit ebenso dichtem, krausem Haar, wie der wilde Knabe. Es tauchte wie ein Schatten aus dem Nichts auf und jagte ihm einen ordentlichen Schrecken ein. Es stand einfach so da und glotzte ihn unverwandt an. Dabei rollte es unruhig mit den Augäpfeln, bis das Weiße hervortrat. Zwischendurch lallte es unverständliche Worte und kicherte dümmlich. Als er es nach dem Wirt fragte, wies es auf das Tor hinter ihm und kreischte laut. Verwundert schüttelte er den Kopf und ließ es mit einem schlechten Gewissen stehen. Der Gedanke, ein Kind mutterseelenallein im Wald zurückzulassen, behagte ihm nicht sehr. Aber schließlich hatte er den Ritt hierher nicht gemacht, um sich um fremde kleine Herumtreiber zu kümmern. Als er das Tor öffnete und sich noch einmal nach ihm umdrehte, stand es immer noch unverändert an der gleichen Stelle.

      „Willst du mit mir kommen, mein Kind?“, forderte er es nun seinem Gewissen nachgebend auf. Doch das Mädchen fing erneut an zu kreischen, mit so schrillen Tönen, dass er sich die Ohren zuhielt und zurückschrie: „Was soll das, du kleine Furie, willst du mich verhöhnen?“

      Vor Schreck über seine Reaktion hielt das Mädchen inne und verzog weinerlich den Mund. Plötzlich bückte es sich, hob blitzschnell die Röcke und lüftete sein nacktes Hinterteil. Angewidert von der vermutlich Irren, führte er das Pferd eilig an ihr vorbei in den dunklen Hof, wo er

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