Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama
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Читать онлайн книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama страница 9
„Seine Haut ist weißer als Alabaster. Das ist nicht die Haut eines Bauernjungen“, erklang die Stimme des Bürgermeisters.
„Bis auf seine Füße, die sind braun geblieben“, meldete sich das Weib. Es entstand eine Pause. Stille. Offensichtlich waren die Männer verblüfft, sprach Müllers Weib doch angeblich nur Französisch.
„Wenn Ihr Herren wüsstet, dass sich die Mutter genauso vor dem Vater fürchtet wie ich“, murmelte Grete. „Dann verständet Ihr, weshalb sie lieber in einer fremden Sprache spricht.“
„Die braunen Stellen könnten ein Hinweis auf Zigeuner sein. Deren Kinder tragen keine Stümpfe. Sie gehen immer barfuß“, erklang es.
„Ein Zigeunerkind?“, hörte sie den Kommissar. „Zigeuner sind seit Jahren nicht mehr in Hameln registriert worden.“
„Möglich ist aber auch, dass es sich sogar um einen Abkömmling des fürstlichen Hofes handelt. Vielleicht wurde er entführt?“, warf der Stadtschulze ein.
„Möglich ist alles. Meiner Meinung nach ist der Junge in den Wald entlaufen. Aus welchen Gründen auch immer“, spann der Kommissar den Faden weiter. „Das würden die unzähligen Narben erklären. Vielleicht hat er sich ein paar Jahre im Wald durchgeschlagen. Hat auf Bäumen geschlafen. Die älteren Narben könnten von den Bäumen stammen, auf die er vor den wilden Tieren geflüchtet ist. Die Größeren könnten von Wölfen stammen.“
„Einen Kampf mit einem Wolf hätte er nicht überlebt. Der Junge ist zwar von kräftiger Statur, aber bedenkt, er ist ein Kind. Nicht mal ein erwachsener Mann schafft das“, entgegnete der Bürgermeister. „Das Kind muss einen von Gott gesandten Schutzengel gehabt haben. Wahrscheinlich waren es die Wölfe selbst, die ihm Schutz gaben. Aber diese Wahrheit herauszufinden ist Eure Aufgabe, Herr Burchardy. Jetzt wollen wir erst mal sehen, wie ihm unser Essen schmeckt. Sicher wird er hungrig sein.“
Immer mit einem Auge nach hinten und der Angst vor dem Vater im Nacken hatte Grete das Geschehen gebannt verfolgt. Sie hatte die Tür einen Spalt geöffnet, getraute sich aber nicht das Waschhaus zu betreten. Der Knabe saß angekleidet mit einem Hemd und einer Hose vor einem groben Holztisch. Die Kleidung kam Grete bekannt vor. Sie gehörte einem ihrer Brüder. Vor ihm stand ein Teller mit Fleisch. Daneben lag ein Kanten Brot. Beides schien seine Neugierde geweckt zu haben, doch der Knabe stierte das Fleisch lediglich an, ohne zuzugreifen, obwohl die Männer nichts unterließen, um ihn zu ermutigen. Irgendwann kam Bewegung in seinen Körper und er führte die Hand fast in Zeitlupe zum Tellerrand. Dann ging alles plötzlich sehr schnell. Er verfiel wieder in sein wildes Gehabe. Nachdem er das Essen wie ein Hund von allen Seiten berochen hatte, sprang er blitzschnell auf, schlug auf das Fleisch ein und zerfetzte es anschließend zwischen den Fingern. Gleichzeitig riss er sich die Kleider vom Leib und begann wie ein Irrer an den Wänden entlangzuflitzen.
Die Anwesenden standen mit offenen Mündern sprachlos im Raum, bis der Bürgermeister das Spektakel verärgert beendete. „Gut meine Herren, wir haben alles versucht. Wie es scheint, ist der Wilde unverbesserlich. Wir werden uns jetzt zurückziehen. Der Knabe wird auf den Namen Peter getauft, wenn er gelernt hat, sich wie ein Mensch und nicht wie ein idiotischer Affe aufzuführen. Bis dahin wird er weggesperrt und August Müller wird sich um ihn kümmern. Der hat endlich eine Aufgabe, die ihm vom Wirtshaus fernhält. Ich gebe ihm vier Wochen aus dem Wildfang einen Menschen zu machen. Ansonsten kommt er zu den Idioten ins Tollhaus.“
„Aber Euer Wohlgeboren, der Feldscher muss ihn doch noch ansehen“, konnte sich Grete nun nicht mehr enthalten und trat in das Waschhaus.
„Ach sieh, Jungfer Grete“, begrüßte sie der Kommissar erfreut. „Wo haben Sie nur gesteckt, die ganze Zeit. Wir hätten Ihre Hilfe gebraucht. Ohne die Dompteuse bekommen wir das Raubtier nicht gebändigt. Seht, was er ohne Sie angerichtet hat.“
„Vielleicht kennt er gar kein Fleisch. Vielleicht mag er lieber Gemüse?“ Auffordernd hielt Grete dem Kommissar den Korb hin.
„Bohnenstängel?“ Er bekam große Augen. „Ich kenne kein Tier, was so etwas frisst. Aber versuchen Sie es ruhig“, sagte er und wies auf den Jungen, der nun wieder, wie Gott ihn geschaffen hatte, in seiner Ecke am Boden hockte und sich vor ihren Augen den Arm zerbiss.
Grete warf ihm den Korb mit dem Bohnenkraut zu, um ihn abzulenken.
„Kommt, meine Herren“, sagte der Bürgermeister und wandte sich angeekelt ab. „Müller wird jeden Augenblick mit dem Feldscher zurück sein. Für uns hat sich die Angelegenheit erledigt. Wenn man mich fragt, was ich von ihm halte, dann würde ich sagen – er ist nicht ganz richtig im Kopf und wahrscheinlich deswegen auch ausgesetzt worden. Wir haben nur unsere Zeit verschwendet.“
Die Herren waren bereits in der Tür, als Grete aufgeregt rief: „Seht nur, er isst die Bohnenstängel!“
Der Kommissar, der als Letzter das Waschhaus verließ, drehte sich nach ihr um. „Dann machen Sie es zu seiner Hauptspeise. Aber sperren Sie ihn gut ein, damit er uns nicht die Felder leerfrisst.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen ließ er sie sprachlos zurück.
Noch am Abend war der Feldscher bereit das Übel mit der angewachsenen Zunge mit zwei Schnitten zu lösen. Doch als der Knabe sich wieder wie eine Furie gebärdete und ihm dabei fast ein Ohr abbiss, unterließ er es. Danach wurde der Knabe von Müller und seinen Knechten in eine Kammer in die untersten Kellerräume gebracht. Um einer Flucht vorzubeugen, vernagelte er das einzige Fenster mit Holz und starken Nägeln und versperrte die Tür mit Eisenriegeln. Nun war Peter wie ein wildes Tier gefangen und Grete wusch heimlich den Hemdfetzen. Als er trocken war, bestaunte sie das feine Gewebe. Sie schob es nachdenklich zwischen den Fingern hin und her, bis sie an einer Naht neben dem Rest einstiger Spitzenrüschen die Umrisse eines verblassten Wappens entdeckte. Bis nach Mitternacht versuchte sie in ihrer Kammer im trüben Schein des Talglichts, das Wappen zu entschlüsseln. Doch die Initialen behielten ihr Geheimnis. Enttäuscht verbarg sie es beim dritten Gongschlag der Kirchturmuhr in ihrem Mieder, in der Hoffnung des Rätsels Lösung irgendwann auf die Spur zu kommen.
Flucht
Grete war gerade eingeschlafen, als sie durch ein Poltern geweckt wurde. Erschrocken fuhr sie hoch und rieb sich völlig benommen die Augen. Auf ihrem Gesicht lag noch das Lächeln eines Traumes, dessen letzte Fetzen durch ihre Erinnerung schwebten. Sie sah den Kommissar in seinem schneidigen, schwarzen Rock, dem Dreispitz auf dem im Nacken zu einem Zopf geflochtenem Haar und den glänzenden, langen Stiefeln. Sah, wie er sich über sie beugte, und hörte seine schmeichelnden Worte. „Ich werde den wilden Knaben zum König machen. Und Sie werden seine Königin.“ An seiner Seite lächelte Peter sie an, ein hübscher kleiner Junge mit einer Perücke und in goldenen Kleidern. Gern hätte sie noch mehr davon erfahren und so ließ sie sich wieder auf den Strohsack fallen, um weiterzuträumen. Doch diesmal riss sie das Gebrüll des Vaters aus dem Bett. Sie war sofort hellwach. Rasch warf sie sich einen Umhang über die Schultern. Dann ergriff sie die verlöschende Kerze vom Tisch, blies in die Flamme, um ihr mit ihrem Atem neues Leben einzuhauchen, und stürzte zur Tür. Als sie sie ungestüm aufriss, um die Stufen in die Küche hinabzueilen, stolperte sie dem Vater direkt in die Arme. Nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte, kam sie nicht umhin, sich ein Lächeln zu verkneifen. Im Halbdunkel des Flures hätte sie ihn eher für einen Bettler gehalten, barfuß und nur im Hemd, in lose geschnürter Hose, mit der Laterne in der Hand. Aber nicht nur das. Er hatte sein gewohntes herrisches Auftreten verloren und kam ihr müde und hilflos vor. Außerdem vermisste sie den glasigen Schimmer in seinen Augen, was ihr verriet, dass er nicht betrunken