Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama
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Читать онлайн книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama страница 8
„Es stimmt!“, bestätigte der Kommissar und griff nach der Kerze auf dem Tisch. „Die schöne weiße Haut ist voller Narben. Eine geht sogar vom Mund bis zum Hals. Es sieht aus, als stamme sie von einem Messer.“ Er reichte das Licht dem Stadtschulzen, der dem Jungen am nächsten stand. Interessiert zog der sich einen Stuhl heran und begann die weiße Knabenhaut genauer abzuleuchten. Sofort kam wieder Bewegung in den Jungen. Äußerlich ein ansehnlicher Knabe, innerlich aber immer noch ein Wilder, antwortete er in Wolfsmanier und bleckte die Zähne abwehrend gegen den Schulzen. Diesmal schlug Müller rechtzeitig zu und traf den Jungen an der Schulter. Der Schlag bewirkte Wunder. Offenbar schien er mit dieser Art der Züchtigung schon Erfahrung gemacht zu haben. Denn wie vom Blitz getroffen, sackte der Wilde in die Knie und berührte wie schon zuvor auf dem Markt, den Steinfußboden mehrmals kurz hintereinander mit den Lippen.
„Welch seltsames Gebaren“, murmelte der Bürgermeister kopfschüttelnd, suchte nach seinem Vergrößerungsglas im Rock und begann, als er es gefunden hatte, die tiefen Narben auf dem gebeugten Rücken eingehend zu inspizieren.
„Na, zumindest scheinen Schläge das Einzige zu sein, was bei ihm wirkt“, bemerkte Müller triumphierend.
„Ich glaube, er will etwas sagen“, bemerkte der Schulze und ging zum besseren Verständnis neben dem Knaben in die Hocke.
„Ja, es hört sich an wie ‚Ala, Ala‘. Diese seltsamen Laute hat schon Braumeister Meyer beschrieben. Entweder ist es eine fremde Sprache oder es sind tierische Laute. Beides ergibt aber keinen Sinn“, antwortete Burchardy vom Tisch aus, wo er sich Notizen in ein kleines Buch mit goldenem Einband machte. „Aber ich werde es herausfinden, ich schwöre es, meine Herren. Was sagt Ihr zu den Wunden, Euer Ehren?“
„Ich bin zu wenig erfahren im Narbenlesen. Sie können sowohl älteren als auch neueren Ursprungs sein. Da Ihr, Herr Burchardy, ein Mann der Verbrechensaufklärung seid, habt Ihr sicher bald eine Erklärung dafür. Zunächst sollte der Barbier einen Blick darauf werfen. Vor allem sollte er sich die Zähne und die Zunge ansehen. Vielleicht ist ja etwas in seiner Mundhöhle, das ihn am Sprechen hindert?“
Der Barbier war sofort zur Stelle, als der Bürgermeister ihn herbeiwinkte. Er öffnete dem Knaben den Mund. Müller und sein Knecht leisteten ihm dabei Hilfe. Diesmal genügte dem Knaben allein der Anblick der Peitsche, um sich mit dem Gehorsam eines geprügelten Hundes seinem Schicksal zu ergeben.
„Die meisten Narben sind sehr tief. Sie könnten von mächtigen Krallen stammen. Vom Mund bis zum Hals hat er eine schlecht vernarbte Biss- oder Schnittwunde. Sie muss ihm ordentlich zu schaffen gemacht haben. Wahrscheinlich war sie lange entzündet. Möglich, dass sie von einem Wolfsbiss stammt“, stellte der Barbier fachkundig, nach eingehender Inspizierung, fest.
„Nun gut. Könnt Ihr eine medizinische Ursache finden, warum der Knabe nicht sprechen kann?“, fragte Burchardy und ergriff Grete bei der Hand. Noch bevor sie sanft protestieren konnte, führte er ihre Finger über die starke Schürfwunde, die vom Kinn bis zur Kehle verlief. „Spüren Sie es auch, Jungfer? Diese Verletzung würde uns sicher gern eine Geschichte erzählen.“ Sein Blick wanderte dabei von dem Knaben zu ihr. Er blieb wohl einen Moment zu lange an ihrem Gesicht hängen, was sie, trotz seines wohlwollenden Interesses an dem Knaben, verwirrte. Die Haut zuckte, als sie das schlecht vernarbte Wundmal berührte und sie zog sie rasch wieder zurück. Dabei fiel ihr der Hemdfetzen ein, den der Junge um den Hals getragen hatte und dem bisher niemand sonderlich Aufmerksamkeit schenkte. Sicherlich hatte er mit dem Hemd die Narbe verdeckt. Sie spielte dem Kommissar gegenüber geschickt die Verlegene und wich seinem Blick aus. Gleichzeitig suchte sie unauffällig den Boden nach dem Stofffetzen ab. Als Tochter eines Gildemeisters hatte sie Schreiben und Lesen gelernt, wobei die Entbehrungen und das Leid der Kindertage es nicht geschafft hatten, ihr die kindliche Neugierde und den wachen Verstand zu nehmen. Sie begriff, dass dieser Fetzen Stoff einen wichtigen Hinweis auf die Herkunft des Knaben geben könnte, und ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie ihn zwischen den Holzzubern entdeckte. Ich muss es verhindern, dass die Männer das Hemd finden, dachte sie und wandte sich nun mit vermehrtem Interesse wieder dem Knaben zu. Dabei drehte sie sich mit ihrer Kehrseite geschickt in die Richtung der Fundstelle, wo sie mit der Fußspitze heimlich nach dem Stofffetzen angelte.
Den Mund des Kommissars umspielte ein heimliches Lächeln. Er beobachtete sie. Hatte er etwas bemerkt? Sein Lächeln kam ihr plötzlich seltsam glatt vor. Sie forschte in seinem Gesicht. Doch es schien undurchdringbar. Galant schmeichelte er ihr: „Nur zu, Jungfer, Sie sollten es sich genau ansehen. Vielleicht wird einmal eine Ärztin aus Ihnen.“
Seine Aufmerksamkeiten endeten jedoch abrupt mit den nüchternen Worten des Barbiers, der die Maulsperre in seinen Händen, die den Mund des Knaben gewaltsam offen gehalten hatte, nachdenklich betrachtete. „Seine Zähne müssten abgeschliffen werden und die Unfähigkeit zu sprechen, könnte von der Zunge herrühren. Mir scheint, sie ist ihm an beiden Seiten festgewachsen.“
„Was sagt Er da? Da muss unbedingt der Feldscher her. Vielleicht lässt sich diese Missbildung operieren“, stellte der Bürgermeister fest und befahl sogleich Müller: „Rufe Er ihn rasch! Der Barbier wird ihm assistieren.“
Müller zeigte sich bedrückt. „Einen Feldscher …?“, druckste er. „Es gibt nur den Barbier im Spital.“
Grete hob blitzschnell das Stück Stoff vom Boden auf. Ohne dass es jemand bemerkte, ließ sie den Hemdfetzen unter ihrem Rock verschwinden.
„Wieso keinen Feldscher? Hat Er das Geld für ihn auch ins Wirtshaus geschafft?“, knurrte der Schulze.
„Der Feldscher hat unser Spital verlassen, auf eigenen Wunsch“, rechtfertigte sich Müller demütig. „Er war schon alt und der Arbeit nicht mehr gewachsen.“
„Ach rede Er nicht. Unsere kurfürstliche Gnaden hatte zur Erneuerung des Spitals zum Heiligen Geist großzügigerweise einen Wundarzt im besten Alter verpflichtet. Wie soll uns ein Barbier vor Epidemien und der schwarzen Pest beschützen? Weiß Er, was die Bettler und Vagabunden ihm hier einschleppen? Er wird wohl Seinetwegen gegangen sein. Wer soll es auch mit Ihm aushalten. Es wäre an der Zeit einmal zu überdenken, was Er seiner Familie antut. Er hat wohlgeratene Kinder, einen warmen Herd und eine wunderbare Köchin.“
„Nun gut“, lenkte der Bürgermeister ein und nickte Müllers Weib säuerlich lächelnd zu. „Es ist nun nicht mehr zu ändern. Beeile Er sich und laufe Er rasch zum Pferdemarkt zur Hauptwache, zum Regiment von Reden! Sage Er dem Festungskommandeur, dass ich Ihn schicke, um mir den Feldscher auszuleihen! Sage Er ihm, dass es dringlich ist.“
Müller verbeugte sich tief und lief zur Tür. Auf dem Weg ergriff er Gretes Zöpfe und zog sie mit sich. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm er einen Korb mit Bohnenstängeln von der Wand und drückte ihn ihr in die Arme. Dann drohte er ihr warnend mit der Peitsche.
„Hier, damit verschwindest du jetzt in der Küche! Denkst du, die Arbeit im Haus erledigt sich von allein? Noch einmal so eine Ungehorsamkeit und es setzt was!“, drohte er ihr gefährlich leise und half mit der Peitschenspitze unter ihrem Kinn nach. Er hob es an, sodass sie ihn ansehen musste. Eingeschüchtert wagte Grete es nicht, ihm zu widersprechen. Instinktiv spürte sie, dass es besser war, ihn nicht noch mehr zu verärgern. Die Demütigungen, von denen er an diesem Tag schon genug hatte ertragen müssen, machten ihn zunehmend reizbarer. An der Tür zum Hof drehte er sich noch einmal nach ihr um und drohte ihr erneut mit der Peitsche.
Gehorsam nahm Grete den Weg zur Küche. Doch auf der