Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama
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Читать онлайн книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama страница 7
Der Mann im schwarzen Rock stand vornübergebeugt vor dem Knaben, der in einer Ecke unter sich machte und Müllers Hand mit weit aufgerissenen Augen fixierte. „Er ängstigt das Kind doch nur. Gibt es denn nichts anderes, mit dem wir ihn fangen können? Vielleicht ruft Er Sein Weib herbei, Müller. Frauen bewirken manchmal Wunder.“
Er sprach Grete aus dem Herzen. Um in das Gesicht des Mannes zu sehen, der offenbar als Einziger Mitleid für das Kind empfand, trat sie einen Schritt aus ihrem Versteck hervor. Der Mann bemerkte es und drehte sich nach ihr um. „Da ist ja ein Weib …“, stellte er erstaunt fest. „Und was für eine Schönheit sie ist.“
„Sie ist noch ein Kind und meine Tochter“, knurrte Müller ärgerlich über ihr Auftauchen und herrschte Grete augenblicklich an. „Was hältst du hier Maulaffen feil? Gibt es keine Arbeit im Haus?“
Grete nahm sofort eine Demutshaltung ein und wollte sich gehorsam zurückziehen, als der Mann nach ihrer Hand fasste und sie an seine Lippen zog. „Wie kann man die Jungfer nur so zurechtweisen. Ich denke, sie ist Seine Tochter. Er sollte dem Herrgott für diese schöne Gabe danken“, sagte er, während seine Augen Grete anlächelten. Es waren diese himmelblauen Augen, umgeben von tausend kleinen Lachfältchen, unter einem Kranz fein geschwungener Brauen, die ihn sympathisch machten. Eine leicht gebogene Nase und schmale Lippen über einem energischen Kinn gaben dem Männergesicht mit der vornehmen Blässe zudem eine gewisse Verwegenheit.
„Herr Burchardy, können wir nicht weitermachen?“, tönte es ungeduldig aus dem Hintergrund. „Euch, in Eurer Eigenschaft als kurfürstlicher Kommissar, sollte es ein Bedürfnis sein, die Sache schnell zu Ende zu bringen. Die Jungfer ist uns keine Hilfe und kann gehen. Sie wurde schon auf dem Markt von der Kreatur gebissen.“
Grete versuchte rasch die verletzte Hand auf dem Rücken zu verstecken und blieb an den Augen des Kommissars hängen. Sie hoffte auf seine Fürsprache. Mit ihrem kindlichen Herzen im Körper einer jungen Frau hatte sie sofort Vertrauen zu dem Mann gefasst. Der Kommissar dachte auch nicht daran, Grete hinauszuschicken. Stattdessen rief er überrascht: „Seht nur, meine Herren, die Kreatur! Welch seltsame Wandlung!“
Während sich auf den Gesichtern Überraschung breitmachte, führte er Grete ein Stück auf den Knaben zu, der sich vor ihnen wie eine schwarze Spinne mit angezogenen Beinen, in eine Ecke hinter dem Schornstein zurückgezogen hatte. Als er das Mädchen bemerkte, kam er vorsichtig witternd aus seinem Versteck heraus und kroch, seine Peiniger dabei ängstlich im Auge behaltend, einen Schritt auf sie zu. In sicherer Entfernung ließ er sich auf dem Boden nieder, zog erneut die Beine an und starrte Grete unverwandt von unten herauf in das Gesicht.
„Was für ein Kuriosum“, stellte der Bürgermeister überrascht fest. „Ich sagte doch – ein Weib und alles regelt sich wie von selbst. Weiber haben schon die Politik verändert, meine Herren. Vielleicht hatte er eine Mutter und erinnert sich an sie.“
„Oder er will sie noch mal beißen, Euer Wohlgeboren!“, grinste Müller und fügte hinzu: „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und der Kreatur den Zuber überstülpen, bevor das Wasser ganz kalt wird.“
Grete war ebenso fasziniert wie die Männer von dem veränderten Gebaren des tierischen Knaben. Gleichzeitig ließ sie aus Mitleid alle Vorsicht außer Acht und nutzte die kurze Verwirrung, um vor ihm in die Hocke zu gehen. Als sie auf Augenhöhe mit dem Wilden war, lächelte sie ihm zuversichtlich zu.
Wie ein kleines, mageres Fellbündel hockte er vor ihr auf dem Steinfußboden und verfolgte jede ihrer Bewegungen. In dem Blick seiner braunen Augen stand keine Panik. Eher war es Neugierde und so etwas wie blindes Vertrauen, das sie seltsam berührte. Der Kommissar flüsterte ihr zu: „Der Wilde hat keinerlei Erfahrung mit Menschen. Es sieht wahrscheinlich zum ersten Mal eine Frau. Sie beeindrucken ihn, Jungfer.“ Seine Worte schmeichelten ihr. Gleichzeitig spürte sie, dass der Knabe in seiner Hilflosigkeit nach etwas suchte, woran er sich orientieren konnte, dass er am Ende seiner Kräfte war und Hilfe bei ihr suchte.
Wie gern hätte sie die Hände nach ihm ausgestreckt und ihn von diesem traurigen Ort weggeführt. Doch ein schmerzlicher Stich in der Bisswunde erinnerte sie daran, es nicht zu tun. Stattdessen hegte sie die Hoffnung, dass er sie verstehen möge, obwohl sie einsah, dass ein Bad für ihn wichtiger war, ebenso ein Bett und etwas zu essen. Leise redete sie zu ihm: „Gib deinen Widerstand auf, Peter. Dir wird nichts geschehen, solange ich bei dir bin. Ich verspreche dir, dich zu beschützen.“
Die Männer waren inzwischen nicht untätig gewesen und hatten die Ablenkung genutzt, um rasch einen Holzbottich über seinen Kopf zu stülpen. Die Antwort war Geschrei und Gepolter, und Grete wurde unsanft zur Seite gestoßen. Die strampelnde Kreatur wurde an Armen und Beinen unter dem Bottich hervor gezerrt und kopfüber in die mit Wasser gefüllte Wanne getaucht. Der Knabe gurgelte und spuckte. Doch all seine Abwehr half ihm nun nichts mehr. Mit vereinten Kräften wurde er solange unter Wasser gehalten, bis er aufgab und unter den kräftigen Händen ganz ruhig in dem Zuber zum Sitzen kam.
„Habe ich gerade ‚Peter‘ gehört? Hat das Kind einen Namen oder hat Sie ihm diesen gerade gegeben, Jungfer?“, vernahm Grete wie versteinert den Bürgermeister in ihrem Rücken.
„Ja, Euer Ehren. Ich habe ihm den Namen gegeben. Mein kleiner Hund fiel mir ein, der Pepe hieß“, antwortete sie, noch verwirrt über die brutalen Maßnahmen.
„Hat Sie ihn noch, Jungfer?“
„Nein, Euer Ehren. Er ist an Altersschwäche gestorben“, log sie und schlug demütig die Augen nieder, als sie den warnenden Blick des Vaters bemerkte.
„Dann hat Sie ihn jetzt wieder, Ihren Pepe. Peter ist ein guter Name. Sie hat großen Einfluss auf ihn. Möge Sie mithelfen, dass aus ‚Peter‘ ein menschliches Wesen werde und später einmal ein wohlerzogener junger Mann. Ich stelle ihm eine Leibrente zur Verfügung, die zunächst alle seine Kosten decken wird. Dafür wird er hier im Spital gut versorgt“, entschied er mit einem wohlwollenden Blick auf Grete und einem entsprechenden in Müllers Richtung, während er noch ganz außer Atem seine Perücke zurechtrückte.
Inzwischen war Müllers Eheweib herbeigerufen worden. In der Tür des Waschhauses erschien ein schwarzhaariges, hochgewachsenes Weib mit früh gealterten Zügen. Ihre Röcke waren geflickt und ihr Mieder nachlässig geknöpft. Sie brachte eine Bürste aus Schweinsborsten mit und ein großes Stück Seife, das man zum Waschen der Wäsche verwendete. Mit einer Verbeugung sank sie vor den Herren nieder wie eine Königin in ihren Lumpen.
„Mach schon, Weib, schrubb das Balg endlich von oben bis unten ab!“, herrschte Müller sie an, als er sah, dass sie sich vor dem wilden Tier im Zuber fürchtete. Der folgende drohende Blick genügte, um sie an ihre Pflicht zu erinnern. Mit saurer Miene und zwischendurch immer wieder zurückschreckend, packte sie den Knaben und schrubbte ihn, bis dem Kommissar überrascht entschlüpfte: „Seine Haut ist ja weiß wie die eines Fürstensöhnchens …“
Der Junge verhielt sich während des Schrubbens seltsam ruhig. Mit wachen Augen verfolgte er den Weg der Bürste und es schien offenbar, dass er die Behandlung genoss. Nur einmal begehrte er auf, als der herbeigerufene Barbier ihm das lange, verfilzte Haar entfernte. Er ging dabei nicht zimperlich vor und entfernte zusätzlich mit einem Messer die wolfsähnlichen Haare, die ihm an manchen Körperstellen wie Borsten aus der Haut wuchsen. Bei jedem Haar, das man ihm entfernte, zuckte und strampelte der Knabe. Letztendlich half ihm alles nichts und die Anwesenden staunten nicht schlecht, welche Verwandlung Wasser, Seife und Schere bei ihm bewirkten.