Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama

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Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama

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Schließlich war er ihr Vater. Den Kampf um die Liebe der oberflächlichen Mutter, die ihre Freier wechselte wie ihre Hemden, hatte sie längst verloren.

      „Er ist weg“, hörte sie ihn stottern. „Du musst mir helfen, ihn zu suchen!“

      „Der Knabe?“, entfuhr es ihr erschrocken und sie bereute es sofort, nicht noch einmal nach ihm gesehen zu haben. „Wie kann so etwas geschehen, Vater? Ich habe doch selbst gesehen, wie Ihr die Tür zu seiner Kammer verriegelt habt“, fragte sie bestürzt.

      „Das habe ich auch. Aber der Wilde ist durch das Fenster geflohen. Grete, wir müssen ihn noch in dieser Nacht finden, bevor es andere tun“, flehte er. „Dir scheint er zu vertrauen. Oh, Herr im Himmel, bewahre mich vor dem Spott“, flehte er und bekreuzigte sich. „Der Bürgermeister hat bereits für seine Unterkunft bezahlt. Wie stehe ich nun vor der Obrigkeit da? Die ganze Stadt wird über mich lachen.“

      Das war es also. Der Vater fürchtete sich davor, sich lächerlich zu machen. Der kleine Funken Hoffnung, dass er aus Liebe zu ihr gekommen war und sie deshalb brauchte, starb so schnell, wie er aufgeflammt war. „Aber Herr Vater, Ihr habt doch vor den Herren geprahlt, dass kein Bär aus dieser Höhle herauskäme, geschweige denn ein kleiner Junge. Wo sollen wir ihn denn jetzt suchen? Der Morgen graut bereits. Er befindet sich vielleicht schon lange außerhalb der Stadttore.“

      „Du gehst zum Stadtschulzen am Markt und fragst nach dem Herrn Burchardy. Er schien mir der Fähigste von den Herren zu sein. Bring den Kommissar unter einem Vorwand dazu, dir zu vertrauen. Nur verrate ihnen nicht die Wahrheit. Ich gehe ins Wirtshaus und frage dort nach dem Knaben.“

      „Ins Wirtshaus? Aber da ist doch jetzt kein Mensch. Ihr sucht nur wieder nach einem Vorwand zu trinken, Vater. Um Peter aufzuspüren, müsst Ihr bei klarem Verstand sein. Sollte er sich noch in der Stadt befinden, irrt er sicher ziellos durch die Straßen. Die Bettler und Diebe werden ihn für einen Wolf halten und erschlagen.“ Sie war vorsichtshalber einen Schritt zurückgetreten. Denn dem Vater widersetzte man sich nicht. Doch die Sorge um den Jungen machte sie mutig.

      „Widersprich nicht, Tochter! Du wirst gefälligst das tun, was ich dir befehle!“, antwortete er und zog sie sogleich hastig hinter sich her die Stufen hinab in den Keller. „Hier sieh, was er fertiggebracht hat!“, sagte er, als sie in seiner Kammer standen. Die Bretter lagen zerbrochen auf dem Fußboden, während die Nägel aus ihnen herausgerissen und geradegebogen zum Teil noch im Holz steckten. Der Vater zog sie zu sich herunter und leuchtete jeden einzelnen Nagel ab. „Siehst du das! So etwas macht kein Tier und auch kein Irrer. Was glaubst du? Hat er uns zum Narren gehalten?“

      Grete staunte und wog einen der rostigen Nägel in der Hand. Er war so lang wie ihr Zeigefinger und fühlte sich schwer an. „Aber er ist doch noch ein Kind“, murmelte sie und versuchte sich gerade vorzustellen, wie der Knabe die rostigen Nägel auseinanderbog, als der Vater sie bereits wieder vor sich her zur Tür schubste.

      „Komm schon! Maulaffen feilhalten bringen ihn uns nicht wieder! Schirr das Pferd an. Ich habe es mir anders überlegt. Wir fahren erst zum Wirtshaus und anschließend gemeinsam zum Stadtschulzen. Sonst verplapperst du dich noch.“

      „Aber Vater …“

      „Geh und gehorche!“, zischte er, während sich seine Augen verengten. Grete wusste, dass es besser war, sich zu fügen. Sie zäumte auf dem Hof rasch das Pferd auf, während er hastig den Rock überwarf und die Taler in seinem Geldbeutel zählte. Insgeheim hoffte sie, ihn auf dem Weg zum Wirtshaus mittels weiblicher List zu überzeugen, zuerst den Stadtschulzen aufzusuchen. Bei dem Gedanken an den schneidigen Kommissar überflog ein Lächeln ihr Gesicht. Seine Schmeicheleien waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen und sie erinnerte sich an ihren kurzen aber schönen Traum.

      Müller lenkte das Gespann durch die Altenmarktstraße und umfuhr geschickt mehrere Schlammlöcher. Mit vorgebeugtem Hals achtete Grete derweil auf jedes noch so kleine Lebenszeichen von Peter. Die dunklen Gassen zwischen dem Armenhaus und der Schule der Hugenotten, wo es viele Versteckmöglichkeiten gab, prüfte sie besonders eingehend. Ängstlich lauschte sie dem Bellen eines Hundes und dem Pfiff eines Diebes. Bei den Patrizierhäusern der Glaubensflüchtlinge aus den Provinzen Languedoc, Champagne, Lothringen und Burgund, die es mit Fleiß und Sparsamkeit zu Wohlstand gebracht hatten, wäre sie beinahe vom Bock gefallen. Scharf lenkte der Vater das Fuhrwerk nach rechts auf ein Steinhaus mit verkröpften Gesimsen und steinernen Putten zu. Die großen Rundbogenfenster des Gebäudes wirkten in der Dunkelheit wie riesige schwarze Löcher.

      Grete sah den Vater fragend an, als er das Pferd vor dem Eingang zügelte und vom Bock kletterte.

      „Komm schon!“, befahl er ihr und reichte ihr die Hand, als er sah, dass sie zögerte. „Keine Bange, hier gibt es kein Bier. Das hier ist ein Kaffeehaus. Es gehört dem Hugenotten Jacques Recolin. Vielleicht hat er etwas von dem Wilden gehört“, erklärte er.

      „Aber das Haus ist dunkel. Hier ist niemand.“ Ungläubig sah sie ihn an und blieb abwartend neben dem Fuhrwerk stehen.

      Müller grinste geheimnisvoll. Dabei verschwand die Härte aus seinem Gesicht. Er wirkte fast wieder so unbeschwert wie früher, als er sie noch auf den Armen umhergetragen hatte. „Jedes Haus hat auch einen Hintereingang.“

      Er griff nach ihrer Hand und zog sie an zwei steinernen Löwen vorbei zur Hinterseite des Gebäudes. Hier war es so dunkel, dass sie ihn neben sich nur als Schatten wahrnahm, als er leise erklärte: „Der Wirt vom Kaffeehaus hat versucht mit Cabaret, Karten- und Billardspielen reich zu werden. Doch das Billardspiel fand zu viele Freunde unter den Herren Offizieren und Kolonisten. Deshalb beschlagnahmte der Magistrat den Billardtisch und schloss das Kaffeehaus wegen Verschwendung und Völlerei. Bis dahin war das Haus voller Leben und in der Franzosenstraße der Stern von Paris gewesen. Der Magistrat musste also mit der Empörung der Offiziere rechnen. Das zwang ihn, einzulenken. Alsbald wurde es wieder geöffnet, allerdings nur bis zehn Uhr abends und auch das nur für die Bürger, die hier Kaffee trinken und ihre Zeitung lesen.“

      „Und woher kennt Ihr das Kaffeehaus, Vater?“

      „Dumme Frage …“, erwiderte er. „Dein Bruder geht doch bei dem französischen Leineweber in der Fabrik gegenüber in die Lehre.“ Grete erinnerte sich, dass der jüngere Bruder sich gern vor ihr brüstete, in was für einer großen Manufaktur er arbeitete und dass sich der gesamte hannoversche Hof, einschließlich des Kurfürsten, in seines Meisters Stoffe kleidete.

      Die Uhr hoch oben im Turm der Franzosenkirche schlug vier Uhr. Für viele Hamelner Bürger begann jetzt bereits ein neuer Arbeitstag mit neuen Sorgen und Entbehrungen, während Grete die Morgenkälte durch die müden Glieder kroch. Sie zog unbewusst den Schal fester um die Schultern. Der Vater klopfte zweimal kurz an die Tür. Offenbar ein verabredetes Zeichen. Gleich darauf drangen leise gesprochene französische Wortfetzen an ihr Ohr und hinter einem der Fenster flackerte ein Licht. Hinter der Tür erklangen Schritte.

      „Qui est là?“, erklang es leise durch den Türspalt.

      „Lass den Quatsch. Ich bin es, August Müller“, zischte der Vater leise. „Nun öffne schon, Alexandre!“

      Ein kleines Männlein in einer Schürze vor der hautengen Culotte aus braunem Samt schob seinen dürren Körper durch den Spalt. Vorsichtig mit erhobener Nase, wie ein witternder Hund, durchforschte er die Dunkelheit und sah sich nach beiden Seiten ängstlich um. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Luft rein war, zog er Müller hastig in den Flur.

      „Du hast ein Weib mitgebracht“, knurrte er und warf einen scheelen Blick auf Grete.

      „Das ist meine Älteste. Ich musste sie mitnehmen. Es geht um mein Leben“, antwortete

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