Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama
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Читать онлайн книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama страница 12
„Treib sie mit der Peitsche auseinander!“, rief ihm der Kommissar zu und tätschelte Gretes Hand. „Ich glaube wir haben Glück. Es sieht so aus, als ob sich da etwas im unteren Wehr verschanzt hat. Möglich, dass der Gesuchte dort Schutz vor dem Pöbel sucht.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr! Hoffen wir, dass er es ist!“, antwortete Grete und wartete nicht ab, bis die Kutsche anhielt. Als sie langsamer wurde, sprang sie zur Tür hinaus auf die Straße und boxte sich mit den Ellbogen bis an das massive Gerinne heran, welches die Wasserzuführung zu den Mühlenrädern sicherte. Zwischen den zwei unterschlächtigen Rädern glaubte sie, den wilden Haarschopf des Knaben zu erkennen. Er konnte jeden Moment zwischen den gewaltigen Schaufeln zermalmt werden. Schaulustige schauten von oberhalb der Wehr herab und warfen lachend und witzelnd mit Steinen nach ihm.
„Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr Christen oder Tiere? Das ist doch noch ein Kind!“, schrie sie, während sie sich auf die Knie niederließ und in das Dunkel der Wehr rief: „Peter, ich bin es! Grete!“, in der Hoffnung, dass der wilde Knabe sich an sie erinnerte und ein Lebenszeichen von sich geben würde.
Ein Krächzen, das wie ein heiseres Bellen klang, war die Antwort, dann ein Plätschern und dann Stille. Noch standen die gewaltigen Räder still. Noch leitete der Freifluter am Gerinne das Wasser am Rad vorbei. Doch den schaulustigen Bettlern, Tagelöhnern und Bauern auf dem Weg zu ihrer Arbeit war das ungewöhnliche Spektakel eine willkommene Abwechslung. Der Müller, ein großer, bärtiger Mann, hatte die Hand mit der Axt erhoben. Er schien sich in der Pose des Henkers zu gefallen und kostete dieses Gefühl vor den ihn anfeuernden Leuten aus. Nach dem kurzen Augenblick der Eitelkeit würde er den Riegel an der Klappe zur Schutzwehr öffnen und die gewaltigen Mühlräder würden mit Getöse ihre Tätigkeit aufnehmen.
„Haltet ein!“, schrie Grete und rannte gegen den Mann an, um ihm das Werkzeug zu entreißen. Doch der versetzte ihr einen Tritt und stieß sie in die Arme von Meister Bertram. Für einen Moment starrte sie den Knochenhauer an wie eine Erscheinung. Dann rang sie die Hände vor ihm: „Was hat der Junge Euch denn getan, Meister Bertram?“ Die Begegnung am Morgen fiel ihr ein und sie hoffte, dass ihn ihre Tränen erweichen würden.
„Was suchst du zu dieser Stunde hier, Grete?“ Bertram zeigte sich erstaunt und zögerte einen Moment, bevor er ihr antwortete: „Es ist doch nur ein Wolfskind und es hat mir Fleisch gestohlen!“
„Das stimmt nicht. Es mag kein Fleisch. Bitte helft ihm! Der Müller darf ihn nicht töten. Peter steht unter dem Schutz des Bürgermeisters.“
„Peter …?“
Meister Bertram stutzte, bevor er bedauerte: „Ich kann ihm nicht helfen, Grete. Niemand kann das. Er wird nicht freiwillig aus seinem Schlupfloch herauskommen. Da ist es schon besser der Müller erspart ihm einen qualvollen Tod. Oder möchtest du zu ihm hinunterklettern und ihn herausholen?“ Grete sah den Knochenhauer betreten an. Daran, dass Peter sich nicht freiwillig retten lassen würde, hatte sie nicht gedacht. „Siehst du, von dem Wilden lädieren lassen möchtest du dich auch nicht“, bemerkte er, als er von dem Müller unterbrochen wurde.
„Er hat recht, Jungfer. Steh uns nicht weiter im Weg. Ich ersäufe den Wolf und damit basta. Außerdem, sieh an, was dieses wilde Tier angerichtet hat. Allein das berechtigt uns, es zu ersäufen, bevor es noch mehr Unheil anrichtet.“
Der Müller zog einen ungefähr siebenjährigen Jungen aus der Menge und schob ihn zwischen Grete und den Knochenhauer. Der Knabe wankte und drohte hinzufallen. Ein Weib stürzte herbei und presste ein Stück Stoff auf eine tiefe Wunde an seinem Hals, die gefährlich nahe bei der Kehle lag.
„Sieh dir die Wunde genau an, Jungfer. Wie der Teufel ist der Menschenwolf über das Kind hergefallen“, brummte der Müller. „Ich töte bestimmt keine Kinder, aber das hier ist keins. Außerdem müsste das Korn schon längst gemahlen werden. Seinetwegen stehen die Räder still. Der Wilde wird sein Versteck nicht verlassen.“ Er ließ sie stehen und hob erneut den Arm mit der Axt. Grete sah sich hilflos um. Doch in den versteinerten Gesichtern fand sie kein Mitleid. Da erklang rechtzeitig die kräftige Stimme des Kommissars in ihrem Rücken und sie atmete erlöst auf.
„Ein Kind wurde gebissen. Nun gut. Aber was sucht es überhaupt zu dieser Zeit auf der Straße? Müller, Er weiß doch sicher, dass Kinderarbeit zu so früher Stunde verboten ist. Habe ich Ihn nicht erst vor einer Woche verwarnt, weil Er das Korn auf seinem Getreideboden, auf dem ein erwachsener Mann nicht einmal gebückt arbeiten kann, von Kindern in die Mühle schaufeln lässt? Und nun betreibt Er auch noch Lynchjustiz? Dass das ein Verbrechen ist und Er sich vor dem ehrenwerten Gericht verantworten muss, ist Ihm doch bekannt.“
Noch unerfahren in der Liebe sog Grete jedes Wort des Kommissars in sich auf und hing mit einer grenzenlosen Verehrung an seinen Lippen. Noch nie hatte ein Mann sich so ritterlich für sie eingesetzt, sie überhaupt wahrgenommen. Ohne dass sie es selbst gewahr wurde, umspielte ein Lächeln ihre Lippen und ihre Augen strahlten ihn an, als er sich zu dem verletzten Kind hinabbeugte, ihm ins Gesicht leuchtete und es fragte: „War es wirklich dieser wilde Knabe oder hat dich nicht vielleicht ein Hund beim Stehlen erwischt und dich gebissen?“ Dabei wanderte sein Blick geringschätzig über die Lumpen, in die der Junge gehüllt war, bevor er sich fest in dessen Augen bohrte. Der Junge bekam es mit der Angst zu tun, entzog sich seinem Griff und verschwand rasch in der sich auflösenden Menge.
Vielleicht hatte Peter Gretes Schreie gehört, vielleicht aber hatte er sich auch nur aus panischer Angst an das Schaufelrad geklammert, das ihn nun nass wie eine Katze nach oben beförderte. Der magere Körper zitterte vor Kälte. Aufgrund der durchgestandenen Strapazen schien er so kraftlos, dass er drohte, wieder ins Wasser zurückzufallen. Die Männer mussten sich beeilen, ihn vom Rad zu ziehen. Zu ihrer Verwunderung ließ sich der Wilde widerstandslos von ihnen packen und in einen Sack stecken. Der Morgen graute bereits, als er im Kutschkasten der herzoglichen Kutsche des Kommissars ins Armenhaus zurückgebracht wurde.
Ermittlungen
Nachdem Aristide Burchardy den Knaben im Armenhaus abgeliefert und sich davon überzeugt hatte, dass er seinem Gefängnis nicht gleich würde entfliehen können, befahl er dem Kutscher noch einmal zur Schleuse zu fahren. Eigentlich hatte er vorgehabt den verlorenen Schlaf der vergangenen Nacht nachzuholen. Doch als die Morgensonne langsam zwischen den vom Frühnebel verschleierten Bergkämmen hervortrat und einen warmen Sommertag versprach, fand er den Morgen zu schön, um ihn zu verschlafen. An der Brücke zum unteren Wehr am Werder, dort wo der Bau der neuen Schleuse geplant war, war es am Vortag zu einem Streit zwischen einem Arbeiter und einem protestantischen Emigranten aus Salzburg gekommen. Der Unterlegene wurde von dem Sieger angeblich in eines der beiden Schöpfräder gestoßen. Da nicht nachzuweisen war, ob es der Fausthieb seines Gegners oder die massigen Radarme waren, die ihn vom Leben in den Tod befördert hatten, oder ob er einfach nur von den Wasserkübeln erschlagen worden war, hatte Burchardy den Auftrag bekommen, Ermittlungen anzustellen. Denn so mancher vom Zaun gebrochene Streit, der die Arbeiten an der Schleuse hinauszögerte, wurde von Intriganten aus dem Hintergrund geschürt. Immerhin hatten die Schiffer viereinhalb Jahrhunderte an der Fischpforte anhalten und ihren pflichtgemäßen Zoll an die Stadt bezahlen müssen. Diese einträglichen Geschäfte wollte die Stadt nicht verlieren, weshalb sich zahlreiche Hamelner Bürger gegen diesen Neubau der fürstlichen Landesherrschaft wehrten. Doch das Wasser der Weser strömte mit solcher Heftigkeit durch den holzverschalten Durchlass im unteren Wehr neben der Pfortmühle, dass es zu einem der schlimmsten und gefährlichsten Schifffahrtshindernisse wurde. Diese Gefahr wollte nun die