Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama
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Читать онлайн книгу Das Wolfskind und der König - Bettina Szrama страница 6
Doch die Französin, die mit ihrer Familie vom Kurfürsten nach Hameln geholt wurde, war nicht treu. Müllers Weib gehörte zu den 114 Flüchtlingen des Pfarrers Dubrue aus Lausanne, der aufgrund der Aufhebung des Ediktes von Nantes in Frankreich, wie zahlreiche andere hugenottische Geistliche, des Landes verwiesen wurde und dem seine Gemeindemitglieder wie treue Schafe gefolgt waren. Müller betonte seitdem immer wieder auf seinen zahlreichen Saufgelagen: „Ach, wären doch diese Hugenotten hier niemals angekommen. Dann hätte ich mir nicht so ein zügelloses Hurenweib ins Haus geholt.“ Sein Weib war nämlich schwanger gewesen, von einem Unbekannten. Man vermutete allgemein, dass ihre Älteste, Grete, das Kind des Koloniedirektors Ponnier sei, eines herrschsüchtigen, mit jedem Handel anfangenden Franzosen, der so gar nicht zu den arbeitsamen, strebsamen Hugenotten passen wollte.
Müllers Weib wohnte zuvor an der Kleinen Straße, die von allen nur „La rue francoise“ genannt wurde. Sie hatte es Müller nie verziehen, dass er sie aus der Hugenottenkolonie herausgeholt hatte. Dabei war ihm bekannt gewesen, dass die Hugenotten ihre Bräuche gern unter sich feierten und die eigene Geselligkeit den Hamelner Bürgern vorzogen. Das Weib fühlte sich schnell einsam und um ihr Leben betrogen. Von rassiger Schönheit, mit einem wilden Temperament ausgestattet, verdrehte sie allen vorbeiziehenden Männern, ob Hugenotten oder Hamelner, alsbald den Kopf. Sie bekam rasch ein Kind nach dem anderen und Müller kam ins Zweifeln, ob die Bälger alle von ihm waren. Zudem war sie zänkisch und sprach kein Wort Deutsch mit ihm. Im Laufe der Jahre zog es Müller mehr und mehr in die Wirtshäuser, wo er sich seinen Kummer von der Seele trank. Er kam jedes Mal unzufriedener nach Hause, vernachlässigte seine Aufgaben im Spital und war manchmal tagelang nicht aufzufinden. Dann sah man ihn an den Spieltischen bei dem Versuch sein Glück beim Spiel herauszufordern. Doch das ersehnte Glück war ihm nicht hold. So haderte er mit dem Schicksal und seiner Familie, und Grete, mit der das Gerede begann, wurde zum Sündenbock.
Müller fühlte sich durch die Bemerkungen des Schulzen geschmeichelt und versuchte nun den fürsorglichen Vater zu mimen. Er schlang seinen Arm um Gretes Schultern und führte sie fast schon behutsam zu seinem Wagen, der mit Bierfässern beladen war. Er hatte die Bierspende kurz zuvor vom Brauer abgeholt, als er aufgrund des Spektakels um den Knaben anhalten musste. Mit einem sichtbaren Grinsen auf dem Gesicht tätschelte er dem Esel die Hinterbacken, bevor er Grete die Hand zum Aufsteigen reichte. „Glaub ja nicht, dass du mir ungeschoren davonkommst“, zischte er ihr dabei ins Ohr, als sie auf den Bock kletterte. „Verheiraten werde ich dich. Ich weiß auch schon mit wem …“, grinste er triumphierend.
Grete nahm auf dem Bock die Haltung ein, die sie schon als Kind angenommen hatte. Sie schlang die Arme um die angezogenen Knie und presste diese fest zusammen. Den Blick hielt sie auf den Boden gerichtet und hob ihn nur, wenn der Vater etwas von ihr wollte. Sie sprach kein Wort, denn das war ihr nicht erlaubt, auch nicht, als die Bäckersfrau mit hochrotem Gesicht heranwirbelte, dem Esel in die Zügel griff und zu Müller hinaufrief: „Ihr braucht gar nicht so scheinheilig zu tun, Gevatter. Wenn ihr zum Tor hinaus seid, dann zeigt Ihr wieder Euer wahres Gesicht. Wehe ich erfahre, dass Ihr sie wieder geschlagen habt, dann werde ich dafür sorgen, dass man Euch die Bierspende streicht und Ihr keinen Fuß mehr in die Stadt setzt!“
„Geh mir aus dem Weg, alte Vettel!“, brüllte Müller vom Wagen. „Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir dein Geschwätz anzuhören! Außerdem werde ich vom Bürgermeister erwartet.“
„Der Bürgermeister hat Euch längst durchschaut. Aber jetzt bekommt Ihr ja ein neues Prügelopfer. Ich hoffe, dass es Euch die Kehle durchbeißt!“, rief sie ihm wütend hinterher. Doch Müller störte sich nicht daran. Er trieb den Esel an und malte sich in Gedanken eine goldene Zukunft aus. Denn sobald er an das wilde Kind und die Grete dachte, klingelten Münzen in seinen Ohren und türmten sich zu Bergen vor seinen Augen. Die Tochter neben sich hatte er über der Träumerei vergessen. Nur einmal erinnerte er sich an sie, als er ihr vor einer steilen Anhöhe befahl, vom Bock zu klettern und den Esel am Halfter hinaufzuführen.
Als sie im Armenhaus ankamen, warteten die zwei herrschaftlichen Kutschen bereits vor dem Eingang zum Haupthaus und Meyer trieb gerade seine Ochsen an ihnen vorbei. Er rief ihnen zu: „Ihr werdet schon ungeduldig erwartet, Gevatter! Sie sind alle im Waschhaus versammelt!“
Müller beeilte sich, den Esel auszuschirren.
Die Worte des Brauers waren nicht notwendig gewesen. Ohrenbetäubendes Geschrei wies ihnen den Weg zum Waschhaus, welches im Untergeschoss lag. Grete quetschte sich hinter dem Vater durch die Tür, der sie über ihren Kopf hinweg achtlos hinter sich zuknallte und sich hastig für sein Zuspätkommen bei den Herrschaften entschuldigte. Nicht ohne dabei die Schuld auf den lahmen Esel und die Tochter abzuwälzen.
„Lasse Er das Gestammel und helfe Er uns endlich“, wurde er vom Bürgermeister unterbrochen, einem greisen, würdigen Mann mit wallender, brauner Allongeperücke, der auf einen mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Stock gestützt neben dem Waschzuber stand und seine Anweisungen gab, während ein Knecht den Holzzuber mit heißem Wasser befüllte. Er hatte dabei große Mühe das heiße Wasser mit einem Eimer aus dem Wasserkessel über dem Feuer zu schöpften, denn das wilde Kind machte es den Anwesenden nicht leicht. Anstatt sich säubern zu lassen, wie man es vorhatte, versuchte es dem zu entkommen und war dabei flink wie ein Wiesel.
Grete drückte sich neben der Tür hinter einen Schrank und beobachtete das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Zum einen empfand sie erneutes Mitleid mit dem seltsamen Geschöpf, zum anderen war sie neugierig zu erfahren, was sich wohl unter der ledernen Haut verbarg, wenn sie erst mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Doch der Knabe, den nun vier kräftige Männer einzufangen suchten — der Schulze, der Aufseher, ein Knecht und ein von Kopf bis Fuß in schwarz gekleideter Fremder — gebärdete sich schlimmer als ein Raubtier. Er sprang die Wände hinauf und flitzte an ihnen entlang wie eine in die Enge getriebene Katze. Man hätte die Töne, die er ausstieß, auch mit einem Fauchen vergleichen können. Jedenfalls sprangen seine Häscher abwechselnd vor ihm zurück und fluchten derb, wenn einer von ihnen in den Finger gebissen wurde oder das Gesicht zerkratzt bekam.
„Er benimmt sich wie ein junger Wolf“, stellte irgendwann der Schulze außer Atem fest und wischte sich mit einem Spitzentuch über die schweißnasse Stirn. Er atmete schwer, die Leibesfülle machte ihm zu schaffen und so sah er hilflos zu dem Bürgermeister, der Müller heranwinkte und ihm befahl: „Hole Er die Peitsche, das kann Er doch am besten. Gerbe Er ihm beim nächsten Fluchtversuch ordentlich das Fell.“
Grete sah den triumphierenden Zug im kantigen Gesicht des Vaters, sah das Leuchten in seinen Augen, während er vor dem Bürgermeister kuschte und ihm beipflichtete: „Ja, Euer Wohlgeboren, schon der Volksmund sagt, gehe nie ohne Zucker und Peitsche zu deinem Weib oder deinem Pferd.“
„Wo hat Er denn das wieder her?“, murrte der Bürgermeister, den die Angelegenheit schon viel zu lange in Anspruch nahm. „Sicher vom Spieltisch. Die Kreatur ist weder ein Weib noch ein Pferd. Sie benimmt sich eher wie ein wildgewordener Affe. Sie hat ganz sicher unter Wölfen gelebt. Ich habe mal gelesen, dass diese Rudel schon ausgesetzte Kinder aufgezogen haben sollen! Was mein Ihr dazu, Meinke Rechtern?“
„Er muss erst in den Waschzuber, dann werden wir sehen, um was für ein Wesen es sich handelt“, keuchte der angesprochene Stadtschulze und gab Müller, der die Lederpeitsche