LANDEBAHN. Stefan Gross
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Ich rief Mirko an. Wir trafen uns am Strand der Krumme Lanke.
»Hey Alter, erzähl das sonst niemandem, ja. Mir kannst du alles sagen. Sogar, wenn du jemanden umgebracht hast oder so, ja?«, sagte Mirko, der meine Geschichte aufsog wie Löschpapier. Als ich mit erzählen fertig war, umarmte Mirko mich. »Hey Alter, Kiffen ist Scheiße. Ich kiff schon lange nicht mehr. Komm mit zum Boxen Alter, ich box schon wie ein Weltmeister.« Ich war überrascht. Das hatte ich überhaupt nicht mitbekommen. »Warst halt mit den Muschis beschäftigt.«
»Wichser!«, sagte ich.
»Motherfucker!«, sagte Mirko, grinste kurz und schlug mir die Faust auf den Solarplexus. Ich sah Sterne, schnappte nach Luft und schlug zurück. Ich traf Mirko in den Magen und er ging zu Boden und machte ein Riesentheater. Ich beugte mich über ihn. Mirko reichte mir die Hand und sprang sofort auf, als ich sie berührte. »Hey Alter, du bist vielleicht drauf! Vergiss den Scheiß, Motherfucker!« Ich haute Mirko gleich noch eine rein, traf aber nur Mirkos brettharten Bauch. »Mannomann Alter, du bist vielleicht drauf!«, stöhnte Mirko, fackelte nicht lange und landete eine Rechte, wieder auf meinem Solarplexus. Ich ging zu Boden. »Motherfucker! Vergiss den Scheiß, Alter!« Ich stand auf und schlug mir den Sand aus den Klamotten. Sabine war eine alte, kranke perverse Hure, die zu feige war, sich einen geilen Stecher zu suchen und ein aufregendes kinderfreies Leben zu führen. Sabine war für mich gestorben.
Sabine hatte ein blaues Auge. Wenn sie rausging, trug sie eine pechschwarze Sonnenbrille. Im Haus nahm sie sie ab. Thomas sagte sie natürlich nur die halbe Wahrheit. Erzählte von einer Auseinandersetzung, die nie wieder vorkommen dürfe. Es gäbe ja wohl schon länger Spannungen. Ich sei seit einem Dreivierteljahr sechzehn, sehe aber aus wie achtzehn und sei ein Mann, ob ihm das überhaupt aufgefallen sei. Dann wickelte sie ihn ein mit Ausführungen über Privatsphäre und Erwachsenwerden und – ich traute meinen Ohren nicht – über Sex, Respekt und Verantwortung. Schließlich fiel das Wort Keller. Ich hörte ihnen von der Küche aus zu und jetzt zitierte Sabine mich ins Wohnzimmer, um was zu besprechen. Es war das erste Mal, dass wir uns seit der Sache in die Augen schauten. Die Pädagogin schaute mich an, als beginne jetzt der Ernst des Lebens. Es war lächerlich, aber wir kamen zu einer Lösung. Wir beschlossen, dass ich in die Kellerwohnung ziehen würde. Ich hatte mir das auch schon überlegt, die Küche mit meinem Destilliergerät war ohnehin schon seit längerem mein Lieblingsort. Nachdem die Möglichkeit, jemals wieder so etwas wie eine Familie sein zu können, zerstört war, gingen wir alle drei nach unten und begannen aufzuräumen.
Die Kellerwohnung war meine Rettung. Ohne sie hätte ich mich wahrscheinlich umgebracht, nicht heldenhaft, sondern in kleinen Dosen. Es gab einen eigenen Zugang über eine Außentreppe. Ich musste nicht mal durch die Wohnung und konnte den beiden völlig aus dem Weg gehen. Sie ließen mich auch wirklich völlig in Ruhe. Ob Thomas jemals die ganze Wahrheit erfasst hatte? Die beiden stritten jetzt noch häufiger. Thomas schrie ab und zu, das war völlig neu. Und irgendwann war Sabine weg. Manchmal brachte Thomas Freunde mit nach Hause und feierte mit ihnen. Auch das war neu. Thomas hatte eigentlich keine Freunde, nur Kollegen, die nur kurz blieben, aber nie mit ihm feierten. Sie saßen im Garten am Lagerfeuer, redeten, spielten Gitarre und luden mich ein, mich zu ihnen zu setzen, aber das lehnte ich stets ab. Thomas erklärte mir, als wir uns zufällig über den Weg liefen, das seien Freunde aus seiner Männergruppe und wollte mit mir darüber reden, wie sehr er sich schon verändert habe. Aber ich ließ ihn stehen. Ich hatte nach der Sache mit Sabine keinerlei Lust mehr auf derartige Gespräche. Ich hatte Mirko und ging mit ihm zum Boxen. Und verdiente mit Mirko gutes Geld mit meinem Cannabisöl, das er verkaufte. Ich lebte sparsam und sparte für meinen Auszug nach dem Abi. Hin und wieder hatte ich Mädchen, meistens ältere, die wie ich Spaß haben wollten. Im Grunde waren sie alle gleich. Ein bisschen Sabine, ein bisschen Annie, ein bisschen was Neues. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jemals wieder in eine zu verlieben. Thomas erzählte mir irgendwann, Sabine sei nach Kreuzberg gezogen. Es wäre der Moment gewesen, über die Sache zu reden. Ich spürte, dass Thomas Bescheid wusste. Aber Thomas sprach das Thema nicht an, er redete nur über die Probleme, die er mit ihr hatte, über ihre Forderungen. Ich ging ihm noch mehr aus dem Weg. An meinem achtzehnten Geburtstag kam er runter zu mir. Ich hatte nicht vor, mit ihm zu feiern. »Gibt ne kleine Überraschung«, sagte er und ich willigte schließlich ein. Wir fuhren nach Steglitz in eine Werkstatt. Der Typ dort war einer aus Thomas’ Männergruppe. Er verschwand kurz auf dem Hof und fuhr dann mit einem schwarzen Peugeot 205 vor. »Dein Geschenk«, sagte Thomas knapp. Es war das letzte Mal, dass wir uns kurz umarmten und beide Tränen in den Augen hatten. Ich legte kurz darauf ein Abi mit 1,7 ab. »Melde dich mal ab und an«, sagte Thomas, als ich ihm den Schlüssel vom Haus gab und mich mit meinem vollgepackten Wagen auf den Weg nach München machte. Ich hielt mich daran und schrieb manchmal Postkarten, später gelegentlich kurze Mails. 2008 eröffnete Thomas mir in einer längeren E-Mail, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs habe. Ein paar Wochen später verstarb er und ich schaffte es nicht zu seiner Beerdigung. Er vererbte mir vierzigtausend Euro.
Schon vorher war Mirko vollkommen aus meinem Leben verschwunden, einfach so. Er hatte das Abi nicht hinbekommen und sich einfach aus dem Staub gemacht. Ich hätte ihn durch die Prüfungen gezogen und geschoben wie einen störrischen Esel über die Pässe der Pyrenäen, wenn er nur einmal was gesagt hätte. Ich vermisste ihn zum ersten Mal seit damals und fragte mich, was aus ihm geworden war.
Ich ließ den Wagen an und fuhr zum Schiefen Zahn, parkte an der gleichen Stelle wie damals und nahm meinen Rucksack aus dem Kofferraum. Ich steckte die zwei Wasserflaschen in die Seitentaschen, hängte mir das Fernglas um und marschierte los. Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte, nur noch viel verwunschener. Ich stieg die seitliche Flanke zu dem Sattel hinauf, der den Schiefen Zahn ans Massiv band. Ich hatte Mühe, auf dem rutschenden Geröll voranzukommen. Der Sattel war weiter erodiert und irgendwann würde der Schiefe Zahn kippen. Die Bäumchen oben auf dem Plateau waren immer noch recht klein, hatten aber dicke Stämme und ein ausladendes Blätterdach ausgebildet, richtige Solarfänger aus Blattgrün. Unter diesem grünen Dach richtete ich mich ein. Der Himmel im Westen leuchtete orange in der tief stehenden Sonne. Ein dünner violetter Streifen am Horizont verband Himmel und Erde. Dann wurde es langsam dunkel und die Sterne begannen zu leuchten. Ich schlief nicht, bis auf ein paar Minuten vielleicht, in denen ich erschöpft einnickte und gleich wieder aufwachte, denn der Himmel, die Sterne, die Gerüche und Geräusche, waren es wert, die Nacht zu durchwachen. Hin und wieder flog mich das Fieber an, in Wellen, die mir erträglich schienen.
Mit der Morgendämmerung verließ ich das Plateau und fuhr zurück ins Haus. Als ich nach dem Duschen Fieber maß, hatte ich etwas über 38 Grad. Ich nahm zwei Ibuprofen und versuchte, bis gegen zwölf zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Der Faden, an dem ich über dem Abgrund des Schlafes baumelte, wollte nicht reißen. Gegen zwei machte ich mich auf zum Flughafen. Mit der S-Bahn waren es nur ein paar Stationen. Alice hatte sich nicht mehr gemeldet. Aber man meldet sich auch nicht an seinem Geburtstag bei dem Menschen, der einem ein Leben lang Liebe und Treue vor einem Standesbeamten, engsten Verwandten und der allerbesten Freundin versprochen hat. Ich brachte es nicht über mich, sie anzurufen, nicht mal, ihr einen kleinen Text oder wenigstens eine originelle Animation zu schicken. Einen Happy Birthday singenden Mäusechor hatte ich gespeichert, aber es schien mir die unpassendste Geste überhaupt zu sein. Ich stellte das Telefon auf Flugmodus und begab mich in die Businesslounge der Emirates. Hier war meine Einsamkeit erträglich. In Flieger, im komfortablen Sitz in der Business-Class, fühlte ich mich sogar geborgen. Ich wurde von lächelnden Stewardessen bedient, aß Filet Mignon und trank drei oder vier Gläser Burgunder, auch weil ich hoffte ein wenig schlafen zu können. Als das nicht gelang, schaute ich mir Inglourious Basterds von Quentin Tarantino an. Ein bisschen fühlte ich mich, als hätte ich selbst Geburtstag. Doch je länger der Flug dauerte desto erschöpfter und nervöser wurde ich. Die Nachwirkungen des Alkohols hätte ich nur mit noch mehr Alkohol vertreiben können, aber das kam nicht in Frage. Ich wäre gewiss nicht der einzige, der sich auf einem Interkontinentalflug betrank,