LANDEBAHN. Stefan Gross

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LANDEBAHN - Stefan Gross

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Öl machte ich intensive Versuche. Ich verdünnte es so lange mit Olivenöl, bis es endlich so subtil wirkte, wie ich es haben wollte.

      Und dann lernte ich am Anfang der Sommerferien Annie kennen und alles änderte sich. Sie war nicht an meiner Schule in Lankwitz, sondern am Droste-Hülshoff Gymnasium in Zehlendorf und wollte später unbedingt Pianistin werden. Ich hatte sie beim Schwimmen in der Krumme Lanke kennen gelernt. Meine halbe Klasse war dort, aber Annie schien niemanden zu kennen. Sonst ginge sie eher zum Schlachtensee, behauptete sie. Wasser war mein Element und Annie schwamm auch wie ein Fisch. Ich schwamm die Krumme Lanke längs durch. Annie ließ sich nicht abhängen, sie versuchte sogar, mich zu überholen und lächelte mich triumphierend an, als sie auf meiner Höhe war. Dann schwammen wir synchron zum Ufer. Noch bevor wir an Land gingen, wussten wir, dass wir herausfinden wollten, wie das mit uns und dem Sex war. Das ging, wie wir beide gleich fanden, nur auf Basis einer echten Beziehung. Also verliebten wir uns. Mein erstes Mal mit Annie war ein voller Erfolg. Und dann verliebte ich mich richtig mächtig und echt in sie. Nach drei Wochen Liebe, auf der alles nochmal ganz anders war als auf Gras, wollte ich sie Sabine und Thomas vorstellen und kündigte sie stolz an. Annie war Lehrerkind wie ich – und wie sich herausstellte, die Tochter von Sabines Rektor. Sabine war total aufgeregt. Thomas sagte nicht viel, nur okay, du bist ja auch schon ziemlich weit, so körperlich und auch sonst. Und er brachte die Sache mit dem Kindermachen nicht zur Sprache, was ich ihm hoch anrechnete und wie eine Auszeichnung empfand. Natürlich musste er darüber nicht mehr mit mir sprechen.

      Aber ich musste beiden schwören, alles, was auch nur im Entferntesten mit Cannabis zu hatte, auf den Dachboden zu befördern und die Stiege hochzuklappen, damit Annie gar nicht erst auf die Idee kam, dass ein Dachboden überhaupt existierte. Das habe mit der beruflichen Konstellation der beteiligten Erwachsenen zu tun, erklärten Sabine und Thomas sehr sachlich. Und bevor sie endgültig ja sagten, schaute Sabine mir eine Ewigkeit lang in die Augen. Ich war mir sicher, sie tat das nur, um herauszufinden, dass ich Annie nichts über die Cannabisgärtnerei und schon gar nichts über ihren inzwischen recht unbekümmerten Konsum ausgeplaudert hatte. Und als sie sich sicher war, fragte sie mich auch ganz unschuldig. Ich hatte, seit ich Mirko nichts mehr abkaufen musste, mit niemandem darüber gesprochen, auch mit Mirko nicht und Mirko dachte wohl, ich sei völlig clean.

      Drei Tage bevor Annie kommen wollte, fing Sabine an, das Haus zu putzen, mit einem Eifer, als käme der Kultusminister mit Amtskollegen aus ganz Europa persönlich zu Besuch. Sie backte sogar einen Erdbeerkuchen und als Annie dann Audienz bei ihr hatte, bekam ich einen ersten Eindruck als persönlich Betroffener davon, wie es war, wenn Mütter und ihre potenziellen Schwiegertöchter um die Gunst des Prinzen rangen, um die Macht im Beziehungssystem. Sie unterhielten sich über die Pet-Shop-Boys, Franziska van Almsick und H&M, aber das war nur verschlüsselt. In Wirklichkeit sprachen sie über Eifersucht und Mordphantasien oder über einen generationsübergreifenden Dreier in Form einer religiösen Handlung, das hing ganz von der Perspektive ab. Ich hatte sehr eigenartige Gedanken, als ich die beiden beobachtete. Ohne Annie wäre es vielleicht gut ausgegangen mit Sabine, aber was konnte man im Nachhinein schon sagen. Natürlich war Sabine hin und weg von Annie. Bei Annie spürte ich Respekt in der Art, wie sie sich sehr gekonnt mit Sabine unterhielt, sogar über Schulpolitik. Dabei blieb sie superhöflich und artig wie ein sehr erwachsenes Kind. Annie war zwei Monate älter als ich und wirkte wohl schon sehr reif, obwohl sie ziemlich klein war und mir nur knapp über die Schulter reichte. Sie war sehr schlank und ihre Brüste waren klein und ziemlich flach. Genau deswegen fand ich sie sehr aufregend. Sie wirke schon wie eine richtige Studentin, behauptete Sabine, nachdem sie gegangen war. Sabine betrachtete mich nach dem Besuch mit anderen Augen, distanzierter, aber auch genauer. Ich genoss das, fühlte mich als Mann akzeptiert, nicht bloß als Schablone, aus der ich erst noch als einer hervorzugehen hatte. Sabine nahm mich ab jetzt wohl auch ein bisschen als Gefahr wahr, was wohl zum Mannsein dazugehörte. Sie nahm mich jetzt ernst.

      Mein Glück mit Annie währte nach ihrem Besuch aber nur noch kurze Zeit, exakt bis zum Ende der Sommerferien. So plötzlich wie sie in meinem Leben aufgetaucht war, war sie wieder weg, abgetaucht und für immer verloren. Nicht mal am Schlachtensee, den ich in den schweren und viel zu sonnigen Tagen nach ihrem Verschwinden täglich mindestens zweimal mit dem Fahrrad nach ihr absuchte, fand ich sie. Ich wusste nicht, wo sie wohnte und nie im Leben hätte ich Sabine angebettelt, über ihren Vater ihre Adresse rauszukriegen. Es war auch gar nicht ganz klar, ob sie noch Kontakt zu ihm hatte, denn der war anscheinend recht frisch von der Familie getrennt und weggezogen.

      Liebeskummer erlebte ich zum ersten Mal. Es war schlimmer als sterben, das stand jedenfalls fest. Vor dem Tod musste man sich nicht mehr fürchten, wenn man eine große Liebe verloren hatte und es überlebte. Ich versuchte mich abzulenken und arbeitete mich am Quellcode von Windows 95 ab. Ich ging kaum noch vor die Tür und aß nichts, auch nicht die belegten Brote, die Sabine mir in meine Zelle brachte. Ich trank Wasser mit ein paar Tropfen Cannabisöl, was aber nicht viel bewirkte. Sämtliche Endorphine produzierenden Einheiten hielten einen wochenlangen Generalstreik durch. Da halfen auch keine Drogen. Am Tag drei oder vier nach Annies brutaler Trennung kam Sabine abends in mein Zimmer und versuchte, mich zu trösten. Sie setzte sich auf die Bettkante und buhlte darum, meine beste Freundin sein zu dürfen. Und das gelang ihr ziemlich einfach. Sie war barfuß, trug ein zitronengelbes Sommerkleid, keinen BH und gab sich mädchenhaft.

      Früher hatte ich mir meine Phantasien an Sex mit ihr verboten und mich ihrer geschämt, doch seit ich mit Annie echten Sex erlebt hatte, ziemlich guten, intensiven Sex, gefielen mir die Gedanken, wie es wohl mit Sabine wäre. Die Mutter erotisch zu begehren sei eine ganz natürliche Episode, hatte Thomas mir sogar erläutert und dabei wohl, von trockener Theorie getrübt, übersehen, dass seine Frau nicht meine Mutter war. Ach ja, und das gelte natürlich in beide Richtungen, hatte er augenzwinkernd gescherzt und sah offenbar den Baum vor lauter Wald nicht. Sabines Bedürftigkeit erregte mich. Dass sie mit Thomas schon länger nicht mehr schlief, war mir längst durch den gereizten Ton im Haus aufgefallen. Auch aßen wir immer seltener zusammen. Sie hatte was geraucht. Ich sah es ihr an. Sie kicherte und benahm sich wie eine Sechzehnjährige. Sie legte es darauf an, gevögelt zu werden. Ich machte es mit ihr, im Kleid, sie trug kein Höschen, es war lustig, so wie Flaschendrehen, wir kicherten und hatten Sex und ich glühte in ihr, stand aber nicht wirklich in Flammen. Sie hätte es schnell beenden, es bei einer Irritation belassen können, aber sie verlor komplett den Verstand. Sie wurde völlig willig, schälte mich aus meinen Klamotten und sorgte dafür, dass ich in ihrem Mund explodierte, wobei sie mich mit hochrotem Kopf betrachtete. »Das war nicht gut«, stammelte ich weinend zwischen ihren Brüsten – und dass sie es da nicht endlich beendete, war noch weniger gut. »Alles ist gut. Du wirst Annie schnell vergessen«, flüsterte sie und streichelte meinen Kopf wie eh und je. Wäre sie da gegangen, hätte ich mich wohl mit dem Whisky aus dem Schrank unten betrunken. Die Flasche wartete dort seit ewigen Zeiten auf einen angemessenen Anlass. Aber sie versuchte, mich für einen zweiten Durchgang zu erregen und ich ließ sie gewähren. Doch dann flog mir die Sicherung raus. Ich sprang auf und ohrfeigte sie. Sie schrie nicht, sondern lachte und ich schlug sie wieder und sie lachte oder weinte oder beides zugleich und ich schlug sie noch ein paar Mal und schließlich zog sie ab und ich schloss die Tür hinter ihr zu.

      Ich holte mir einen runter auf die Erinnerungen an Annie und um das, was ich mit Sabine gerade erlebt hatte, zu überblenden. Ich verrieb mein Sperma über meinen Bauch und rubbelte es wieder weg, als es festgetrocknet war. Ich fühlte mich von mir selbst entkoppelt, wie ein abgkoppeltes Zugabteil, das langsam ausrollte. In Wirklichkeit hatte ich mich von Sabine entkoppelt. Irgendwann raffte ich mich auf, flitzte ins Bad und duschte eine halbe Ewigkeit. Dann ging ich runter und durchs Wohnzimmer in die Küche. Sabine kauerte mit Mickymaus-Kopfhörern über den Ohren auf dem Sofa wie eine fette alte Katze. Auf dem Glastisch stand eine leere Flasche Rotwein. Ich packte Brot, eine Schachtel Camembert und drei Flaschen Sprudel ein, huschte wieder hoch, schloss mich ein, aß die Brote, saß kauend am offenen Fenster, starrte in den schmutzigen Berliner Nachthimmel und versuchte, die Zukunft zu verstehen. Als es anfing zu dämmern und die Vögel zu zwitschern begannen, kroch ich erschöpft ins Bett und schlief bis mittags. Als ich aufwachte, hatte ich ein bisschen Hoffnung. Draußen schien die Sonne durch die freien Stellen zwischen

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