LANDEBAHN. Stefan Gross
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Wir betrachteten uns im Spiegel. Ich legte ihr meinen Arm um die Hüfte. Wir waren ziemlich genau gleich groß. Nur wenn sie sich an mich anschmiegte, wirkte sie kleiner und zarter, als sie sonst war. »Na dann, lass uns rübergehen und ein Kind machen«, sagte sie gut gelaunt mit ihrer leicht kratzigen Stimme, wie sie auch manche Sängerinnen haben. Alice sang selbst ziemlich gut. Wenn ihr danach war, trällerte sie Passagen von Nora Jones, Amy Winehouse und Adele. Sie wollte sich aus meiner Umarmung drehen, aber ich hielt sie fest. Ich wollte den Anblick dieses Paares im Spiegel noch eine Weile genießen.
»Soll es so aussehen wie du?«, fragte ich. »Meine Sommersprossen braucht es auf alle Fälle«, antwortete sie zärtlich und knabberte an meinem Ohr. »Du bist so schön«, sagte ich und zeichnete mit dem Zeigefinger ihre Kontur im Spiegel nach, malte Kreise um ihre kleinen runden Brüste und drückte einen Punkt in ihr orangefarbenes Dreieck. »Aber es soll unbedingt deinen Mund und dein Kinn haben, und natürlich deinen dunklen Teint, aber meine grünen Augen. Keine leichte Aufgabe, Meinst du, das kriegen wir hin?«
»Ich weiß nicht. Manchmal schlagen die Gene der Großeltern oder noch früherer Generationen voll durch. Da kann ich für nichts garantieren«, sagte ich. »Die Mendelschen Gesetze sind mir sehr wohl bekannt«, antwortete meine Frau, die Biologin, ein bisschen gereizt. Wir sprachen nicht oft darüber und ich hatte auch nicht davon anfangen wollen. Aber das Problem meiner Herkunft drängte sich unvermeidlich in unser Liebesspiel. Ich kannte meine Herkunft nämlich nicht und litt sehr darunter. Ich hatte keine Geschichte, keinen Stammbaum, der Auskunft darüber hätte geben können, ob ich einer ruhmreichen Familie entstammte, die schon seit Jahrhunderten ihre Traditionen und ihren Besitz von einer Generation zur nächsten weitergab; oder nur der Spross einer minderjährigen kleinen Hure war, die nicht wusste, wer mein Vater war, es aber nicht übers Herz gebrachte hatte, mich abzutreiben oder nur zu stumpfsinnig war, sich darum zu kümmern. Das schien mir bisweilen am wahrscheinlichsten: das Kind eines verzweifelten Mädchens zu sein, das den Vater nicht kannte. Sie hatte mich, anfangs verzweifelt und dann resigniert ausgetragen. Und meine wahre Herkunft für immer gelöscht, als sie mich am 6. Januar 1980 am Eingang eines Westberliner Krankenhauses in einem Kinderwagen zurückgelassen hatte. Dieser Tag jedenfalls galt als Datum meiner Geburt. Aber über meiner Herkunft lag ein Leichentuch. Ich schämte mich vor Alice über dieses Leid, das ich in unsere Beziehung hineingeschleppt hatte wie eine chronische Erbkrankheit, wie eine Behinderung.
Ich schämte mich vor Alice über dieses Leid, das ich in unsere Beziehung hineingeschleppt hatte wie eine chronische Erbkrankheit, wie eine Behinderung.
Meine Adoptiveltern Sabine und Thomas Crecelius hatten mich ein paar Wochen später als Adoptivkind entgegengenommen. Man hatte ihnen nicht viel über mich und meine kurze Zeit bei ihnen erzählt. Sabine und Thomas waren esoterische Schwärmer und von Beruf verbeamtete Lehrer, verbeamt (von Beamer), wie ich hervorbrachte, als ich sprechen lernte. Ihre Liebe für mich war aufrichtig. Doch ich wusste, dass es keine echte Elternliebe für mich geben konnte, einfach weil es keine echten Eltern für mich gab. Ich wollte wissen, von welchen Geschlechtern ich tatsächlich gezeugt, in welchem Mutterleib ich zu einem Menschenkind gediehen und aus welchem Schoß ich geboren worden war. Sabine und Thomas hatten versucht, mich davon abzubringen, mir vom Stamm der Menschheit gepredigt, zu der alle Menschen gehören und mich auf die Zwänge in sogenannten alten Familien hingewiesen. Sie ermahnten mich, stets meine angeborene Schönheit und Intelligenz zu schätzen. Sabine hatte mich manchmal einen orientalischen Prinzen genannt. Alice war in mein angeblich italienisches Aussehen verliebt. Doch das änderte nichts an meiner schmerzenden Sehnsucht nach der Wahrheit meiner wirklichen Herkunft. Das war meine Obsession, meine Schwäche. Sie hatte mich zu einem zweifelnden Menschen gemacht. Schon als Junge, mit den ersten Möglichkeiten meines gerade erwachenden Bewusstseins ausgestattet, hatte ich angefangen, leidenschaftlich an meinem Dasein zu zweifeln, so extrem, dass ich manchmal wirklich glaubte, ich sei nicht am Leben. Nichts schien wirklich real, alles war zweifelhaft, nur eine Illusion. Ich empfand mein Leben manchmal als Traum, aus dem man nicht aufwachen konnte. Man schlief von Tod zu Tod und träumte zwischendurch verwirrendes Zeug, das Leben eben. Nicht mal sich umzubringen ergab in diesem sinnfreien Flackern irgendeinen Sinn.
Alice hingegen stammte aus einer uralten katholischen Familie, die in den Glaubenskämpfen des dreißigjährigen Krieges aus dem Böhmischen vor den Protestanten in die Hallertau geflüchtet war. Hopfenbauern und Landwirte seit Generationen. Sie besaßen eine Urkunde, der ihren ehemaligen böhmischen Besitz belegte und einen Stammbaum, der bis ins dreizehnte Jahrhundert reichte, über dessen Wahrheitsgehalt bei den zahlreichen Festen ihrer Sippe von ihren unüberschaubar vielen Verwandten lautstark debattiert wurde. Alices Familie führte seit vielen Generationen den Nachnamen Hammer. Als wir beschlossen zu heirateten, gefiel mir die Idee sofort: Carl Hammer. Es war mir sehr leichtgefallen, meinen sperrigen Namen Crecelius, den ich von Thomas und Sabine erhalten hatte, abzulegen, als wir die Ehe schlossen.
Alice küsste mich aus meinen schwermütigen Gedanken.
»Du kannst im Gegensatz zu mir frei phantasieren, von wem du wohl abstammst. Vielleicht kommst du aus einer feinen sizilianischen Familie und der Großvater unserer zukünftigen Kinder hat früher reihenweise Leute umgelegt.« Ich lächelte traurig. »Vielleicht bin ich ja Inder zu so und so viel Prozent. Ich sollte doch endlich einen genealogischen DNA-Test machen.« Alice hielt diese Tests für Augenwischerei, weil wir alle zu über neunundneunzig Prozent genetisch übereinstimmten. Aussagen zum Rest seien Spekulation. Sie seufzte. »Ein bisschen indisch oder italienisch sind wir alle. Du bist schön, ich liebe den Duft deiner Haut und den Glanz in deinen Augen, wenn du scharf bist.« Sie ließ ihre Hand ganz sanft auf der Mitte meiner Brust landen, spielte ein bisschen mit meinen Haaren, und legte dann ihr Ohr auf mein Herz. »Hörst du das auch? Bum, Bum, Bum. Darum geht’s, mein schöner, tapferer Mann, nur darum, nicht um die Vergangenheit. My heart is going boom boom boom, son, he said, grab your things, I've come to take you home.«, sang sie in mein Ohr, erregte meine abgeklungene Bereitschaft mit der Hand und führte mich ins Schlafzimmer.
Sie war weicher als sonst. Kein vertrautes Gegenstemmen, keine Anspannung ihres Beckenbodens, nur Offenheit, Weichheit und Feuchte. Meine heftigen Stöße in ihre völlig verflüssigte Scheide liefen ins Leere. Ich hielt inne und suchte in diesem See nach Halt, nach einem Rand und Ufer. Aber Alice war so nass und geschmeidig, dass ich Angst hatte, in ihr zu versinken. Ich wusste nicht mal genau, ob ich noch steif war. Ich zog mich aus ihr zurück, setzte mich auf die Fersen und brachte meinen erschlafften Schwanz wieder hoch, was angesichts des Anblicks, den sie mir bot, zum Glück nicht lange dauerte. Sie lag mit geschlossenen Augen tiefenentspannt auf dem Rücken, bespielte ihre Lieblingsstelle und stöhnte leise. In einem derart abwesenden Zustand kannte ich sie bisher nur, wenn sie reichlich betrunken war und nicht mehr besonders interessiert an Sex mit mir. Ich drang wieder in sie ein, doch sie reagierte überhaupt nicht auf mich. Ihre völlige Selbstbezüglichkeit irritierte mich gleich wieder. Nach ein paar mechanischen Stößen verlor ich erneut die Lust, stieß mich ziemlich fest von ihren Oberschenkeln zurück und ließ mich aufs Bett fallen. Alice erwachte aus ihrer Trance. »Was ist los? Stimmt was nicht?« Sie stemmte sich hoch und brauchte eine Weile, um sich zurechtzufinden in der gewöhnlichen Realität von Frage- Antwortspielen, Positionsbestimmungen und Selbstbehauptungen, denn ich wollte mit ihr reden. Als sie begriff, was vor sich ging, womit ich ein Problem hatte, pfefferte sie erzürnt das Kopfkissen ans Kopfende unseres Ehebetts, stauchte und boxte es zu einem Sitzkissen zusammen, setzte sich mit angewinkelten Beinen drauf und sah mich reichlich angesäuert an. »Was ist los? Hm?« »Ich kann nicht. Ich komme mir vor wie ein Soldat auf Heimaturlaub, der am Abend, bevor er wieder an die Front muss, noch schnell ein Kind zeugen soll.«
Alice explodierte, in mehreren Stufen. »Jetzt hör mal zu, Herr Hauptmann der Reserve. (Das war ich in der Tat.) Das ist jetzt echt nicht die feine Art. Ich habe gar kein Problem damit, dass du deine verdammte Pflicht für deinen Herrn und Meister Richard