Gesammelte Weihnachtsgeschichten. Charles Dickens
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»Siehst du auch«, sprach Christian, »wie da aus dem Felsen ein kleines Quellchen, so fein wie ein Silberfädchen, hervorspringt, und sich in den hellen See ergießt? Sieh, zwei weiße Schwäne mit schöngebogenen Hälsen schwimmen auf dem See und spiegeln sich in dem ruhigen, silberklaren Wasser.« »Dort«, sagte Katharine, »kommt ein Hirtenmädchen den steilen Weg am Berg herab, und trägt ein zugedecktes Körblein auf dem Kopf. Darin werden wohl Äpfel oder Eier sein, die sie zur Krippe trägt.« »Und sieh«, sagte Christian, »dort schiebt einer auf seinem Schiebkarren einen Sack die hohe Bergschlucht hinauf. Was aber in dem Sacke ist, weiß ich nicht zu sagen.« So unterhielten sich die Kinder höchst angenehm, und kein kleines, streifiges Schnecklein, das an dem Felsen klebte, und kein buntes Müschelein am Ufer des Sees blieb unbemerkt.
»Nun wohl«, sagte Anton, »das ist alles sehr schön. Allein das Schönste ist doch die Abbildung des himmlischen Kindes! Das freut mich am meisten. Denn um jenes Kindes willen, das hier abgebildet ist, hat mich der himmlische Vater aus meiner großen Not errettet.«
Zweites Kapitel
Geschichte des armen Anton
Der Hausvater, in dessen Hause Anton so gut aufgenommen wurde, war ein Förster. Er saß, indessen die Kinder so mit einander plauderten, in seinem Lehnsessel am Ofen, und schien in Gedanken vertieft. Die Försterin setzte sich, mit dem kleinsten Kinde auf dem Arm, neben ihn auf einen Stuhl, und sagte über eine Weile: »Warum bist du so stille, und über was sinnst du nach?« »Ich sinne den letzten Reimen nach, die wir gesungen haben«, sagte der Förster. »Du hast nun freilich getan, wie sie lauten, und den armen Knaben gespeiset und erwärmt. Ich denke aber, wir könnten doch noch mehr an ihm tun. Sieh, es ist heute die heilige Nacht. Wir feiern das Andenken jener Nacht, in der das göttliche Kind geboren wurde, das zu unserm und aller Menschen Heil in die Welt gekommen. Und nun schickt Gott uns eben heute Nacht ein Kind her, dem wir zum Heile werden können. – Der Erlöser kam als ein Fremdling in die Welt, und er hatte nicht, wo er sein Haupt hinlege, als wollte er die Gastfreundlichkeit der Menschen auf die Probe stellen. Die Einwohner von Bethlehem bestanden bei dieser Probe schlecht, und verstießen ihn gleich anfangs zu den Tieren des Stalles; sollten wir den Knaben da auch verstoßen? Sag mir aber deine Meinung aufrichtig, Elisabeth, was wir tun sollen!«
»Den Knaben annehmen«, sagte die Försterin freudig und freundlich. »Was ihr einem von diesen Mindesten tut, das habt ihr mir getan, sagte ja er, der in dieser Nacht geboren ward. Und der Anton scheint mir ein recht guter, sanfter Knabe, der ein edles Gemüt hat. Er sieht so fromm und unschuldig aus, und, obwohl er bettelt, so ist er doch gar nicht keck und verwegen. Gewiß ist er ehrlicher Leute Kind. Er hat so eine feine Aussprache, und obwohl seine rote Jacke etwas abgetragen ist, so ist sie doch von recht gutem Tuche. Wo ihrer fünf essen, essen auch sechs. Wir wollen den Knaben behalten.«
»Du bist doch eine gute, liebe Frau«, sagte der Förster, und drückte ihr die Hand. »Gott wird es dir vergelten, und was du an einem fremden Kinde tust, unsern eigenen Kindern zu gut kommen lassen. Doch müssen wir den Knaben zuvor erst prüfen, ob er der Wohltat wert ist.«
»Anton, komm einmal daher!« rief der Förster jetzt laut. Anton kam und stellte sich vor ihn hin, gerade und aufrecht, wie ein Soldat vor seinem Offizier steht.
»Dein Vater«, fing der Förster an, »war also ein Soldat, und starb den Tod fürs Vaterland. Nun, das ist wohl traurig für dich, allein für ihn ist es schön und rühmlich. Aber erzähle uns doch mehreres von deinen Eltern. Wo waret ihr vor dem Kriege? Wie kam dein Vater um? Wie starb deine Mutter? Wie kamst du hieher in unsern Wald? Laß einmal hören!«
Anton erzählte: »Meinen Vater, Gott hab ihn selig, nannten die Husaren ihren Herrn Wachtmeister. Unser Regiment lag, so lang ich denke, zu Glatz in Schlesien in Garnison. Meine Mutter nähte immer sehr fleißig und verdiente vieles. Sie war sehr geschickt. Da kam der Vater eines Tages eilig nach Hause und sagte: »Es ist Krieg; wir müssen morgen fort!« Er war ein tapferer Mann und wußte sich gut darein zu schicken. Meine Mutter aber hatte einen großen Schrecken und weinte bitterlich. Sie wollte ihn nicht allein ziehen lassen; der Abschied fiel ihr gar zu schwer. Auf ihr vieles Bitten nahm er uns endlich mit. Wir zogen weit – weit fort. Mit einmal hieß es: Der Feind rückt an. Mein Vater und die Husaren mußten ihm entgegen. Meine Mutter und ich blieben zurück. Da wurde uns nun wohl recht bange, als wir in der Ferne so fürchterlich schießen hörten. »Ach«, sagte die Mutter zu mir, »bei jedem Schuß geht mir ein Stich durchs Herz. Denn ich weiß ja nicht, ob die Kugel nicht das Herz deines Vaters durchbohrt.« Wir weinten und beteten, so lange das Schießen währte. Doch der Vater kam glücklich und unversehrt wieder zurück. So ging es nun öfter. Allein eines Tages kam nach einem Gefechte ein Husar mit des Vaters leerem Pferde in das Dorf gesprengt und sagte, der Vater sei schwer verwundet; er liege eine halbe Stunde vom Dorfe auf der Walstatt und werde wohl sterben. Die Mutter und ich eilten sogleich zu ihm. Er lag unter einem Baume. Ein alter Soldat kniete bei ihm und hielt ihn sanft in den Armen, so, daß der Vater den Kopf an die Brust des wackern Kriegers anlehnen konnte. Noch zwei andere Soldaten standen dabei. Mein armer Vater war durch die Brust geschossen und sah bereits so blaß aus wie ein Sterbender. Wir sahen es ihm an, daß er noch etwas sagen wollte; allein er konnte nicht mehr reden. Da blickte er mich mit seinen sterbenden Augen noch einmal schmerzlich an, dann blickte er auf die Mutter, und dann zum Himmel. Wenige Augenblicke nachher verschied er. Die Mutter und ich weinten uns fast die Augen aus. Die Leiche wurde auf dem nächsten Kirchhofe begraben. Einige Herren Offiziere und viele Soldaten kamen und begleiteten die Leiche. Die Trompete klang mir so seltsam und so traurig, daß mir’s ist, ich hörte sie noch immer. Sie erwiesen ihm noch die letzte Ehre, und schossen ihm noch in das Grab. Meine Mutter und ich wurden von dieser traurigen Ehrenbezeugung so erschüttert, als würde auf uns selbst geschossen. Viele Soldaten wischten sich die Augen, als sie vom Grabe zurückkehrten. Ich und meine Mutter aber zerflossen in Tränen.
Die Mutter wollte nun wieder in ihre Heimat zurück kehren. »Ich habe dort freilich keine Verwandten mehr«, sagte sie, »aber doch noch eine gute Bekannte. Sie wird uns wohl in ihr Haus aufnehmen, und ich denke, dort von meiner Arbeit dich und mich zu ernähren.« Allein wir hatten kaum eine Tagesreise zurück gelegt, da wurde die gute Mutter unterwegs krank. Mir Mühe erreichten wir noch einen kleinen Weiler. Man wollte uns nirgends aufnehmen; endlich fanden wir in einer Scheuer ein Unterkommen. »Das ist wohl hart«, sagte meine Mutter; »allein Maria hatte es ja auch nicht besser. Auch sie wurde nirgends hineingelassen und mußte in einem Stalle übernachten.« Meine Mutter wurde indes stündlich kränker. Sie ließ einen Geistlichen rufen und bereitete sich zum Tode. Als es Nacht wurde, kam die Bäuerin, der die Scheuer gehörte, mit ein wenig Suppe in einem irdenen Schüsselein, und sagte zu meiner Mutter: »Ihr seid wohl recht krank; ich muß daher schon noch etwas Übrige tun.« Sie ging, brachte eine alte Stalllaterne, in der ein kleines Öllicht brannte, und hängte die Laterne an einem Balken auf. Das war alles, was sie tat. Sie sagte uns nun gute Nacht und kümmerte sich weiter nicht mehr um uns. Ich blieb ganz allein bei der Mutter; ich saß so neben ihr auf einem Bund Stroh und weinte bitterlich. Gegen Mitternacht wurde sie, so viel ich bei dem trüben Scheine der Laterne sehen konnte, immer blässer. Sie seufzte mehrmal sehr tief. Ich weinte immer heftiger. Sie bot mir die Hand und sagte: »Weine nicht, lieber Anton! Bleibe fromm und gut, bete gern, habe Gott vor Auge und tue nichts Böses; so wird dir Gott einen andern Vater und eine andere Mutter geben.« So sprach sie. »Aber lieber Gott«, sagte Anton, und die hellen Zähren floßen ihm über die blühenden Wangen, »eine solche gute Mutter bekomme ich doch nicht mehr.« Nun, fuhr er fort, blickte sie lange zum Himmel, betete in der Stille, segnete mich mit ihren sterbenden Händen und verschied. Ich konnte nichts als weinen. Der Bauer und die Bäuerin hatten wohl meiner Mutter versprochen, sie wollen mich annehmen und mich wie ihr eigenes Kind halten. Sie nahmen das Wenige, was meine Mutter hinterlassen hatte, ihre Kleider und einiges Geld, auch wirklich zu sich; allein ehe drei Wochen vergingen, schickten sie mich fort, und sagten, ich habe schon dreimal so viel verzehrt, als die Verlassenschaft meiner Mutter wert sei. Ich ging und nahm mir vor, nach Glatz zu