Gesammelte Weihnachtsgeschichten. Charles Dickens
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Viertes Kapitel
Antons fernere Geschichte
Eines Tages schickte der Förster den Anton mit ein paar Schnepfen in das benachbarte fürstliche Jagdschloß Felseck. Der Verwalter hatte eben einen Gast und wollte ihn damit bewirten. Anton kam, unterwegs an einem Wasserfalle vorbei, der zwischen schwarzgrünen Tannen, weiß wie Schnee, von einem hohen Felsen herabstürzte. Nicht weit davon saß ein fremder Herr in einem dunkelblauen Kleide, schaute über die Schulter des Fremden auf das Blatt, und konnte sich nicht entalten, laut auszurufen: »O wie schön! Ja, das heißt gemalt!« Er bat um Erlaubnis, das schöne Gemälde näher besehen zu dürfen, und erhielt sie. »Mir ist’s«, sagte er, indem er es betrachtete, »als wäre das Blatt da ein Spiegel, in dem sich der Wasserfall, nebst Felsen und Bäumen, im kleinen abspiegelte. Wie silberhell das Wasser aus dem gespaltenen Felsen hervorschießt und wie schön sich der weiße Schaum unten zwischen den bemoosten Steinen kräuselt! Wie frisch und grün das zarte Moos an diesem Steine da ist! Man meint, man könne es wegrupfen. Wie keck diese rauhen Tannen emporstarren! Und da haben Sie überdies noch einen Hirsch hergemalt, der aus dem Bache trinkt. Wie leicht der auf den Füßen steht! Man sieht es ihm an, wie flüchtig er über Stock und Stein wegsetzen kann. Die Hirsche, die ich male, stehen so lahm da, als wollten sie alle Augenblicke umfallen. Ich weiß kein rechtes Leben in sie hinein zu bringen.«
Der Maler hatte an den ungeheuchelten Lobsprüchen des Knaben und noch mehr an dessen Gefühl für Kunst ein großes Wohlgefallen. Er sagte lächelnd: »Du bist also, wie ich merke, auch ein kleiner Maler?« » Ach«, sagte Anton, »bisher meinte ich wohl gar, ich sei kein kleiner, sondern ein großer Maler. Jetzt sehe ich aber wohl, daß ich gar keiner bin.« Der Maler sagte: »Ich wünschte deine Malereien doch zu sehen. Ich werde dich nächstens besuchen, und da mußt du sie mir zeigen. Wer sind deine Eltern und wo bist du zu Hause?« »Ach«, sprach Anton, »ich bin ein armer Waisenknabe. Der Herr Förster Grünewald hat mich aber an Kindesstatt angenommen.« »Nun«, sagte der Maler, »da bist du wohl mit ihm verwandt, ein Brudersohn oder ein Schwestersohn?« »Nein«, sagte Anton, »ich kam ganz landfremd in sein Haus; er und seine Frau nahmen mich aber sogleich auf und hielten mich wie ihr eigenes Kind.« »Das ist viel, sehr viel!« sagte der Maler. »Doch wie kam denn dies?« Anton erzählte seine Geschichte ausführlich. Der Maler hörte ihm aufmerksam zu und sagte am Ende: »Der Förster und seine Frau müssen sehr edle Menschen sein. Grüße sie mir, und sage ihnen, morgen des Tages werde ich sie besuchen, um ihnen im Namen der Menschheit für die Liebe, die sie dir erweisen, zu danken.«
Der Maler hieß Riedinger und war vor ein paar Tagen auf dem fürstlichen Jagdschlosse angekommen, um da einige alte Gemälde aufzufrischen. Er benützte diese Gelegenheit, eine und die andere Waldgegend, die ihm besonders gefiel, abzuzeichnen. Sogleich am Abende des folgenden Tages besuchte er den Förster. Beide biedere Männer fanden bald, daß sie eines Sinnes waren, und wurden Freunde. Der Maler wollte nun Antons Zeichnungen sehen. Die Försterin lobte sie ausnehmend. »Glauben Sie mir«, sagte sie, »sie sind unvergleichlich.« Allein Anton stand errötend an der Tür und sagte: »Herr Riedinger, Sie werden sehen, daß sie ganz und gar nichts heißen.« Der Maler ermunterte ihn aber, sie zu zeigen, und Anton brachte sie. Herr Riedinger betrachtete eine nach der andern sehr bedachtsam und lächelte einige Male. Wiewohl er vieles daran auszustellen hatte, so gefielen sie ihm dennoch sehr. »Wahrhaftig«, sagte er, »es steckt ein Maler in dem Knaben. Herr Grünewald, überlassen Sie ihn mir. Sie sollen Freude an ihm erleben.« »Topp!« sagte der Förster und schlug ein. »Ich habe schon lange nachgesonnen, was der Knabe werden solle. Er ist nun bereits im vierzehnten Jahre und in der Schule zu Äschental ist für ihn weiter nichts mehr zu lernen. Zu einem Jäger ist er zu zart und zu mitleidig. Er artet mehr seiner sanften Mutter nach, als seinem tapfern Vater. Wenn Sie also meinen er gebe einen guten Maler ab, so nehmen Sie ihn immerhin in die Lehre. Wie viel verlangen Sie Lehrgeld?« »Lehrgeld!« sagte der Maler. »Davon kann keine Rede sein. Sie gaben mir zuerst ein Beispiel, wie man sich armer Waisen annehmen müsse. Eine edle Tat zieht immer andere nach sich, wie eine Kerze andere anzündet. Das ergibt sich alles ganz natürlich. Lassen Sie es also gut sein. Sobald ich mit meiner Arbeit auf dem Schlosse fertig bin, fährt Anton, wenn er anders Lust hat, mit mir in die Stadt, und ich werde keine Mühe sparen, ihn zu einem Künstler zu bilden.«
Anton hüpfte fast vor Freude. Als indessen nach einigen Tagen der Maler in einer Kutsche vor das Haus gefahren kam, ihn mitzunehmen, weinte der gute Knabe doch recht herzlich. Allein der Förster sprach: »Weine nicht, Anton. Es ist ja nur ein Sprung in die Stadt. Wir besuchen dich öfter, und auch du kannst uns an Sonn- und Feiertagen leicht besuchen. – Ja, das bedinge ich mir noch aus«, sprach er zu Herrn Riedinger, »daß Anton uns manchmal besuchen, die Weihnachtsfeiertage aber allemal ganz bei uns zubringen dürfe. Sie müssen ihm das erlauben.« »O recht gern«, sagte der Maler, »recht gern: und wenn Sie und die Frau Försterin nichts dagegen haben, so komme ich allemal mit.« Sie gaben sich darauf die Hand. Anton dankte seinen Pflegeeltern. Sie ermahnten ihn, seinen Lehrmeister, der so vieles aus lauter Güte für ihn tun wolle, als seinen Vater zu ehren. Unter den besten Segenswünschen seiner Pflegeeltern und Geschwister stieg Anton in die Kutsche und fuhr mit dem Maler fort.
Der treffliche Maler hielt in allen Stücken Wort. Es war ihm eine Herzenslust, einen so fähigen Schüler zu unterrichten. Auch kam er mit ihm zu dem Förster öfter auf Besuch; ja manchmal blieben sie mehrere Tage, um in dem gebirgigen Walde schöne Gegenden abzuzeichnen. Der Meister konnte seinen Schüler jedesmal nicht genug loben. »Unter uns gesagt«, sprach er zum Förster, »er wird ein Künstler, dem ich das Wasser nicht bieten darf.«
Nach einigen Jahren kam Herr Riedinger mit Anton, der nun mehr ein blühender Jüngling war wieder einmal zu dem Förster in die Weihnachtsfeiertage. Herr Riedinger blieb nach dem Abendessen mit dem Förster und der Försterin etwas länger auf. Anton und die Kinder des Försters hatten sich längst zur Ruhe begeben. Der Förster und die Försterin merkten wohl, daß der Maler etwas auf dem Herzen habe, und es ihnen sagen möchte. Endlich fing er an: »Was Anton bei mir lernen konnte, hat er gelernt. Er muß nun reisen; er muß Italien sehen. Allerdings wird das nicht wenig kosten; allein es lohnt sich der Mühe. Kein Kapital könnte besser angelegt werden. Ich stehe Ihnen dafür, es wird auch reichlich Zinsen tragen und seiner Zeit wieder ersetzt werden. Was eine solche Reise kostet, übersteigt freilich das Vermögen eines Privatmannes. Allein ich habe mir die Sache so ausgedacht: Es versteht sich, daß Anton nicht ganz auf fremde Kosten reise. Er muß selbst etwas verdienen. Indes braucht er doch immer ansehnlichen Zuschuß; denn er muß auch für sich noch freie Zeit behalten, um in der Kunst weiter zu kommen. Was nun mich betrifft, so werde ich das meinige redlich dazu beitragen. Ich habe es mir, von Ihrem Beispiele ermuntert, nun einmal in den Kopf gesetzt, den Anton umsonst zu einem Maler zu bilden. Seine Arbeiten, die er bisher lieferte, sind mir sehr gut bezahlt worden. Dieses Geld habe ich zurückgelegt, und werde es zu seiner Reise verwenden. Allein es reicht bei weitem nicht zu. Wären Sie nun geneigt, das noch Fehlende, das freilich eine nicht geringe Summe betragen kann, daraufzulegen? Ein gutes Werk, das man angefangen