Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier. Immanuel Birmelin

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Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier - Immanuel Birmelin

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Bowlby erhielt von der Weltgesundheitsorganisation den Auftrag, einen Bericht über das Schicksal heimatloser Kinder im Nachkriegs-Europa zu verfassen. Bowlby zeigte, dass Babys genetisch vorprogrammiert sind, eine Bindung an eine feste Bezugsperson zu suchen und aufzubauen. Die sichere Beziehung zu einer vertrauten Person spielt eine wichtige Rolle bei der seelischen Entwicklung des Menschen, wie es auch bei allen anderen Primaten der Fall ist.

      »Die Bindungstheorie ist im ethologischen Denken der 1960er Jahre entstanden und verbindet psychoanalytisches Wissen mit evolutionsbiologischem Denken.« (Quellennachweis, Grossmann, >) Bowlby und Ainsworth beziehen sich auf die Tatsache, dass die Bindung an die Mutter ein lebensnotwendiges System in der Entwicklung vieler Tierarten darstellt und im Laufe der Stammesgeschichte einen hohen Anpassungswert erlangt hat. Beim Menschen ist dieser Mechanismus als stammesgeschichtlicher Rest noch vorhanden; der Säugling bindet sich zwangsläufig an seine Bezugsperson. Auf der Gegenseite bildet auch die Bezugsperson eine Bindung zum Kind aus.

      Eine Bindung des Kindes entwickelt sich nach Auffassung von Bowlby und Ainsworth in mehreren aufeinanderfolgenden Phasen.

      1 Vorbindungsphase: Hier reagiert der Säugling zwar allgemein auf Menschen, besonders auf das menschliche Gesicht, jedoch ohne zwischen einzelnen Personen zu unterscheiden. Die besondere Bevorzugung des Gesichts hängt mit der Reifung der Sinnesorgane zusammen.

      2 Entstehungsphase: Das Kind unterscheidet Personen hinsichtlich ihrer Vertrautheit. Diese Entwicklungsphase wird ab dem dritten Lebensmonat angenommen.

      3 Bindungsphase: Man nimmt an, dass etwa ab dem siebten Monat Bindungen zu individuellen Personen ausgebildet sind. Die Fähigkeit, Personen wiederzuerkennen, setzt bestimmte kognitive Leistungen voraus. Das Kind muss eine Vorstellung davon entwickelt haben, dass bestimmte Personen oder Objekte existieren, auch dann, wenn sie nicht sichtbar sind.

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      Ein Foto, das Bände spricht: Mutter und Kind in inniger Vertrautheit.

      Qualität der Bindung

      Wichtig ist auch zu wissen, dass in der Art der Qualität der Bindungen zwischen Eltern und Kind beim Menschen große Unterschiede zwischen den Individuen bestehen. Etwas Ähnliches lässt sich auch bei Vögeln und Säugetieren beobachten – und wurde bei Primaten eingehend beschrieben. Nämlich das Phänomen, dass jede Beziehung ihre eigene Ausprägung hat und dass die Bindungen durchaus unterschiedliche Qualitäten haben.

      In der Frühphase menschlicher und tierlicher Entwicklung werden entscheidende Weichenstellungen für das spätere Leben vorgenommen. Und da sind wir bei der zweiten Hauptfragestellung – dem Anpassungswert –, nämlich nach den Funktionen eines Verhaltens. Das ist ganz zweifelsfrei die Vorbereitung auf das Erwachsenenleben. Beim Menschen besteht die Vorbereitung darin, dass auf der Grundlage sicherer Beziehungen Informationen erworben werden können, die letztlich ein Zurechtfinden in der Welt ermöglichen.

      Wie gut oder wie schlecht sich die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt, ist von seiner sozialen Erfahrung abhängig. Das war eine der wichtigen Erkenntnisse von Bowlby und seiner Schülerin Ainsworth. Mithilfe der Bindungstheorie kann erklärt werden, warum emotionale Schmerzen wie Angst, Wut und Hass und auch spätere Persönlichkeitsstörungen wie Depression und emotionale Entfremdung durch elterliche Zurückweisung oder durch unfreiwillige Trennung oder den Verlust der Bindungsperson entstehen.

      Wichtig zu wissen

      Karin und Klaus Grossmann beschreiben in ihrem hervorragenden Buch »Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit« Langzeitstudien amerikanischer Wissenschaftler. (Quellennachweis, >)

      In einer der Studien untersuchten sie die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern im Alter von 18 Monaten bis ins Kindergartenalter aus Familien der Mittelschicht. Ergebnis: Aus sicheren Bindungen entwickelt sich kindliche Kompetenz, die sich im Kindergarten in angemessener Autonomie, Kooperationsbereitschaft, Wissbegier und einer guten emotionalen Organisation, zum Beispiel in ihrem Mitgefühl und in ihrer Frustrationstoleranz, zeigt.

      Die Forschungen führten zu einem besseren Verständnis in der Frage, welchen Einfluss die frühe Bindungsqualität zur Mutter auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hat. Sie zeigten, dass die Qualität der Mutterbindung die Grundlage für das Selbstwertgefühl des Kindes ist und wie diese Qualität seine Beziehung zu Gleichaltrigen und anderen Personen, denen es begegnet, beeinflusst.

      Unter natürlichen Bedingungen baut das Neugeborene eine Bindung zu seiner Mutter auf. Aber es gibt Situationen, in denen die Mutter nicht zugegen ist. Die Mutter ist beispielsweise schwer erkrankt. Glücklicherweise kann das Baby zu jeder Pflegeperson eine Bindung aufbauen, die beruhigend mit ihm umgeht, aktiv auf es eingeht und auf seine Signale verständnisvoll reagiert.

      Drahtattrappe statt Mutter

      Welche verheerenden Folgen das Fehlen einer Mutter-Kind-Bindung hat, konnte das Ehepaar Harlow im Tierexperiment zeigen. Heute würde man vermutlich solche Experimente nicht mehr durchführen, und ich muss gestehen, ich hätte es auch früher nicht gemacht. Aber die Ergebnisse sind sehr aufschlussreich und unterstreichen, wie wichtig Bindungen im Säuglingsalter sind.

      Die Tiere, es waren Rhesusaffenjunge, wurden sofort nach der Geburt von der Mutter getrennt und in Anwesenheit von zwei Drahtpuppen als Mutterersatz aufgezogen. Bei einer der Puppen bestand der Rumpf aus einem weichen Wolltuch, bei der anderen aus einem Drahtgeflecht. Stellte man die Affenkinder vor die Wahl zwischen Drahtmutter und Wollmutter, entschieden sie sich immer für die Wollmutter, niemals für die Drahtmutter. Sogar dann, wenn man sie an der Drahtmutter durch eine Milchflasche anlocken wollte. Die Bindung des Affenkindes entsteht demnach nicht dadurch, dass das Junge durch Nahrung belohnt wurde. Es zog die weiche Wollmutter vor. Geborgenheit ist wichtiger als Nahrung.

      Die körperliche Entwicklung dieser Tiere verlief zunächst normal, und sie entwickelten sogar eine Art Anhänglichkeit an eine der Attrappen, die mit weichem Stoff überzogen war. Später stellten sich bei den mit Attrappen aufgezogenen Tieren allerdings schwere Entwicklungsschäden ein. Man spricht vom Deprivationssyndrom. Dieses Syndrom zeigt folgende Merkmale: Bewegungs-Stereotypien, allgemeine Bewegungsunruhe, aggressive Reaktionen, verbreitete Apathie, Ausreißen der Haare und viele weitere abnorme Verhaltensweisen.

      Die meisten Tiere paarten sich nicht mehr, diejenigen Weibchen, die sich paarten und Kinder bekamen, waren schlechte Mütter. Sie ließen ihre Kinder widerwillig saugen. Die Lernleistungen im Vergleich zu normal aufgewachsenen Tieren waren gering, ihr Erkundungs- und Spielverhalten war gestört.

      Wie wichtig ist der Partner?

      Jeden Morgen im Sommer fliegt eine wilde Graugänseschar in Grünau, Österreich, ein – genau wissend, dass es hier Futter gibt. Mensch und Vogel haben sich aneinander gewöhnt. Beim näheren Hinsehen bemerkt man dann, dass die Schar aus mehreren einzelnen Paaren besteht. Gans und Ganter. Ehepaare, könnte man sagen. Sie bleiben ein Leben lang zusammen, ziehen jedes Jahr gemeinsam Kinder groß und behaupten sich gegen andere Paare.

      Katharina Hirschenhauser, eine Wissenschaftlerin des Konrad-Lorenz-Instituts, untersucht das Verhalten und die Stresshormone, die Graugänse bei Trennung zeigen. Sie hat die unangenehme Aufgabe, die Frau von Ganter Max zu entführen. Die Wissenschaftlerin nähert sich vorsichtig und bedächtig dem Paar. Plötzlich, ohne hastige Bewegungen, packt sie die Gans und entführt sie. Und Max bleibt allein zurück. Wie fühlt er sich, was geht in seinem Inneren vor?

      Der

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