Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier. Immanuel Birmelin
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Stress oder besser Distress (= dauernd anhaltender negativer Stress) entsteht in einem Organismus, wenn er die Umweltreize und Situationen nicht mehr adäquat verarbeiten kann und er bei der Verarbeitung überfordert ist. Sein psychisches und physiologisches Gleichgewicht gerät in Schieflage. Der Körper reagiert mit einer erhöhten Nebennierentätigkeit darauf und sendet Hormone ins Blut. Bei andauerndem Stress werden die Reproduktionsrate und das Immunsystem heruntergefahren. Es kommt zu Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes oder zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Tier oder der Mensch fühlt sich nicht mehr wohl. Stressmessungen mittels Cortisol sind ein Indikator für Unwohlsein eines Individuums.
Die chemische Analyse des Kots von Max ist kompliziert, aber das Ergebnis ist eindeutig. Die Stresshormone von Max jagen nach der Entführung in die Höhe, offenbar macht ihm die Trennung von seiner Partnerin zu schaffen. Sein Hormonpegel wird erst wieder normal, wenn er seine Partnerin zurückbekommt. Zumindest auf der Ebene der Stresshormone sind uns Gänse erstaunlich ähnlich.
Der Vater der Verhaltensforschung
Die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle im oberösterreichischen Grünau trägt den Namen des bedeutenden Wissenschaftlers Konrad Lorenz. Er ist einer der Väter der Verhaltensforschung und bekam für seine Forschungen den Nobelpreis. Bilder, wie er mit seinen Graugänsen im See schwamm, gingen um die ganze Welt. Er wurde ein Star in der Wissenschaft. Was war sein Forschungsfeld? Seit frühester Kindheit interessierte er sich für Tiere und schloss mit ihnen Freundschaft. Zu vielen von ihnen hatte er eine enge Bindung, und das war auch unter anderem Teil seiner Forschung. Er stellte fest, dass sich frisch geschlüpfte Enten und Gänse in einem kurzen Zeitfenster an ihre Mutter binden. Das war nicht besonders neu und keine wissenschaftliche Sensation.
Beginnen wir die Geschichte am Startpunkt. Der dreiunddreißigjährige Konrad Lorenz wollte einmal den Vorgang, wie eine Graugans aus dem Ei schlüpft, genau beobachten. Nachdem sich das Küken aus der Eischale befreit hatte, ruhte es aus und sah in das Antlitz seines Beobachters, der gerade eine Bewegung machte und irgendein Wort sagte. Der kleine Vogel vollzog daraufhin die – wie man heute weiß – angeborene Gebärde des Grüßens nach der Art der Graugänse. Das Tierchen senkte seinen Kopf mit vorgestrecktem Hals und nach unten durchgedrücktem Nacken und äußerte den dazugehörigen (Gruß-)Laut, der freilich nur wie ein Wispern klang.
Lorenz schob dann das Gössel ins Bauchgefieder der Hausgans, die er als Pflegemutter auserkoren hatte, und nahm stillschweigend an, dass das kleine Tier sich dort wohlfühlen und sich seinem Verwandten anschließen würde. Genau das tat aber das Gössel nicht: Es verließ die Gänsemutter und folgte dem Menschen, also Konrad Lorenz. Wann immer sich dieser entfernte, stieß es einen Verlassenheitslaut aus. Lorenz erkannte, dass, wenn ein Graugansküken aus dem Ei schlüpft, das Erste, was es zu Gesicht bekommt und sich bewegt, als Mutter angesehen wird. Egal, wie dieses Tier oder dieser Gegenstand aussieht. Dieses Objekt ist die Mutter. Lorenz schreibt dazu: »Trägt man solch ein Gänseküken zu einer Gänsefamilie, bei der sich gleich alte Junge befinden, so gestaltet sich die Sache gewöhnlich folgendermaßen: Der herankommende Mensch wird von Vater und Mutter misstrauisch betrachtet, und beide versuchen, mit ihren Jungen möglichst rasch ins Wasser zu kommen. Geht man nun sehr schnell auf sie zu, dass die Jungen keine Zeit mehr zum Fliehen haben, so setzen sich die Alten wütend zur Wehr. Geschwind befördert man das kleine Waisenkind dazwischen und entfernt sich eilig. In der großen Aufregung halten die Eltern den kleinen Neuling zunächst für ihr eigenes Kind und wollen es vor dem Menschen verteidigen, wo sie es in seiner Hand hören und sehen. Doch das Schlimmste kommt danach. Dem jungen Gänschen fällt es gar nicht ein, in den beiden Alten Artgenossen zu sehen. Es rennt piepsend davon, und wenn zufällig ein Mensch vorbeikommt, so schließt es sich diesem an; es hält eben diesen Menschen für seine Eltern.« (Quellennachweis, Lorenz, >) Lorenz sprach bei dieser Art des Lernens von Prägung. Ein wichtiges Kennzeichen dieses Lernvorgangs ist die Unwiderruflichkeit. Hat ein Gössel gelernt, dass ein Mensch die Mutter ist, dann bleibt dies ein Leben lang so. Das zweite Charakteristikum ist die sensible Phase. Das Fenster, in dem etwas gelernt wird, ist nur in einer ganz bestimmten Entwicklungsphase geöffnet. Es gibt also einen ganz klar definierten Zeitraum mit Anfang und Ende.
Biologisch ausgedrückt heißt das, in einem ganz bestimmten Entwicklungsabschnitt eines Organismus werden ganz bestimmte Gene eingeschaltet, die das Lernen bedingen. Was aber das Lebewesen lernt, hängt von der Umwelt ab. Welche skurrilen und absurden Dinge gelernt werden können, hat Eckhard Hess – ein Mitarbeiter von Konrad Lorenz – in seinen Experimenten gezeigt.
Prägungskarussell – das Entenküken sieht den Ball als Ersatzmutter an.
Das Prägungskarussell
Eckhard Hess hat die klassische Prägungsapparatur erfunden und wollte wissen, wann sich das Zeitfenster der sensiblen Phase bei Entchen und anderen Küken öffnet und schließt. Bei seinem Experiment ging er folgendermaßen vor: In einem sogenannten Prägungskarussell ließ er frisch geschlüpfte, im Brutschrank erbrütete Entchen einer Attrappe nachlaufen. Das Karussell kann man sich wie eine kleine Zirkusmanege vorstellen (Abbildung, >). Das Größenverhältnis beträgt etwa eins zu zehn. Die Begrenzung des Manegenrandes ist mit Holzbrettern eingefasst, sodass der Vogel nicht herausschauen kann, in der Mitte gibt es einen zweiten Kreis aus Holzbrettern. Die Attrappe wird zwischen inneren und äußeren Kreis gesetzt und mittels einer Apparatur im Kreis herumbewegt. Damit ist gewährleistet, dass die Versuche unter kontrollierten Bedingungen ablaufen.
Hess setzt ein frisch geschlüpftes Küken in das Karussell. Als Attrappe dient eine Holzente mit einem Lautsprecher im Bauch. Hess schaltet die Apparatur ein: Die Attrappe bewegt sich im Kreis und stößt Entenrufe aus. Die Ergebnisse sind eindeutig: Maximal 30 bis 60 Stunden nach der Geburt sind die Entchen für den Prägungsprozess empfänglich. Innerhalb dieser genetisch determinierten Zeitspanne, so Hess, genügt es, für nur zehn Minuten dem Tier eine Attrappe oder ein Lebewesen vorzusetzen – danach sind Bindung und Erkennung irreversibel. (Quellennachweis, Celli, >) Selbst wenn man statt der Holzente einen Fußball mit Lautsprecher verwendet, laufen die Entchen der vermeintlichen »Fußballmutter« nach.
Zwei, die sich mögen. Auch zwischen Eisbär und Schlittenhund kann Freundschaft entstehen.
Freundschaft unter Tieren
Wer mit mehreren Hunden, Katzen, Wellensittichen, Papageien oder mit einer anderen Tierart zusammenlebt, wird früher oder später beobachten, dass einige von ihnen unterschiedlich starke Bindungen zu ihrem Artgenossen aufbauen. Man sieht, dass manche Tiere häufiger zusammenliegen, sich kraulen oder lecken. Unsere Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Einige von ihnen sind Freunde. Für Tierfreunde gibt es daran nicht den geringsten Zweifel.
Aber die Fähigkeit, Freundschaft als gegenseitige freiwillige Bindung zwischen biologisch nicht verwandten Individuen zu entwickeln, sprach man lange Zeit einzig und allein dem Menschen zu. Tiere seien dazu nicht fähig, hieß es. Erst durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin, in der gezeigt wurde, dass zwischen Menschen und Tieren eine Verwandtschaft besteht, begann das Gebäude der scharfen Trennung von Mensch und Tier äußerst langsam zu bröckeln. Das Bild der Tiere in den Köpfen der Menschen veränderte sich, als die Menschen im vergangenen Jahrhundert damit begannen, die Tiere in der freien Wildbahn zu beobachten und zu erforschen.
Paviane – die große Überraschung
Barbara