DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT. H. T. Thielen
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Bei anderen – manche waren zweifelsohne hervorragende Mediziner – hatte ich den Eindruck, dass ihr Einsatz lediglich im Sinne des Geldverdienens gemanagt wurde. Ihre Arbeit war Mittel zum Zweck, und nur ein Teil ihrer Aufmerksamkeit war auf die Behandlung gerichtet. Ich hatte das Gefühl, nur eine Nummer, ohne Name, ohne Gesicht, zu sein, die mit möglichst vielen Untersuchungen in kürzester Zeit durch die einzelnen Abteilungen der Praxis geschleust wurde.
Um die Anzahl der medizinischen Leistungen für die Patienten zu erhöhen, sind in den letzten Jahren in manchen Arztpraxen individuelle Gesundheitsleistungen, sogenannte „IGeL-Leistungen“94, zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme geworden. Sie werden als für die Genesung wichtige und unterstützende Maßnahmen, zur Vorsorge und zur Früherkennung von Krankheitsbildern, angeboten.
Das Verhalten der Ärzte, diese ca. 400 unterschiedlichen IGeL-Leistungen zu offerieren, ist sehr unterschiedlich. Manche erwähnen sie kaum, andere bewerben derart intensiv, dass auch die Ärzteverbände von „schwarzen Schafen“ sprechen. Unter dem Strich sind es durchweg Maßnahmen ohne evidenzbasierte Wirksamkeit, also ohne Studienlage. Da sie keinen wissenschaftlich-signifikanten Nutzwert haben, lehnen die Kassen meist eine Kostenübernahme ab.95
Kurz vor Ende des Arzt-Patienten-Gesprächs geht es dann auch um die Frage, ob eine weitere Konsultation erforderlich ist.
Verantwortungsbewusste Ärzte wollen sich konsequenterweise Gewissheit verschaffen, ob die Behandlung erfolgreich war und eventuell abgeschlossen werden kann. Dies ist höchst ehrenwert und die Entscheidung obliegt selbstredend der kritischen Einschätzung des Arztes. Sein Urteilsvermögen sollte jedoch der Verwirklichung ethischer Werte dienen und muss zum Vorteil der Gesundheit der einzelnen Patienten ausgerichtet sein. Da das Gesundheitssystem häufige Wiedereinbestellungen der Patienten honoriert, kann es aber auch zu Übertreibungen kommen, und die Anzahl der Arztbesuche steigt über das medizinisch wirklich notwendige Maß hinaus. Leider gibt es auch in diesem Zusammenhang Ärzte, die zusätzliche Folgetermine benennen, damit entsprechende Kosten bei den Kassen abgerechnet werden können.
Medizin ist ein Erwerbsmittel, nur wer behandelt, verdient Geld. Teilt der Arzt dem Patienten mit, dass die Selbstheilungskräfte in seinem Körper für die Genesung sorgen und eine Therapie überflüssig ist, so kann er lediglich ein kleines Beratungshonorar geltend machen. Das ist der Grund, warum sehr viel Medizin stattfindet, bekanntermaßen, um den Umsatz und damit den persönlichen Gewinn zu steigern. Letztendlich ist es aber auch eine Frage des Gesundheitssystems. Solange Ärzte gleichzeitig Unternehmer sind, solange sie nur verdienen, wenn sie tatsächlich therapieren, spielen ökonomische Aspekte eine gewichtige Rolle.
Die niedergelassenen Ärzte haben einen vergleichsweise großzügigen Ermessensspielraum, um Therapien, auch für Kassenpatienten, zu verordnen. In den Kliniken ist der Entscheidungsfreiraum der Ärzte jedoch absolut begrenzt. Sie müssen diese oder jene Untersuchung noch durchführen, damit die Kosten/Erlösrechnung des Patienten für die Abteilung in die Gewinnzone kommt. Nicht der Bedarf des Patienten, sondern der Profit steht im Fokus. Es geht sogar so weit, dass etablierte Computerprogramme den Therapeuten kontrollieren und täglich, präzise auf dem Bildschirm, darauf hinweisen, was noch gemacht werden kann. Die Abläufe müssen funktionieren, und zwar so, dass es Geld bringt – eine absurde Faktizität.
Dies scheint politisch so gewollt. Denn, wenn eine ehemals staatliche Gesundheitseinrichtung mit sozialem Auftrag privatisiert wird, also zu einem gewinnorientierten Unternehmen umgewandelt wird, dann sind, so traurig es auch ist, derartige Widersinnigkeiten zu erwarten.
Auch Zahnarztpraxen sind gewerblich orientierte Unternehmungen und auch in der Dentalmedizin werden die Ärzte häufig mit Interessenkonflikten konfrontiert. Die Versuchung ist gerade in diesem Fachgebiet besonders groß und vielfältig, und nicht Wenige entscheiden sich für den persönlichen Vorteil.
Von „Überversorgung“ sprechen die Insider verschleiernd, wenn die Zahnärzte ihre Bewertungen nicht mehr am medizinisch Notwendigen orientieren. Durch unseriöse Vorgehensweisen wird schnell aus einer notwendigen einflächigen eine zwei- bzw. dreiflächige Füllung oder gar eine Zahnkrone. Unter den Zahnärzten heißt es dann scherzhaft: „Jeder Krone oder jedem Implantat steht ein gesunder Zahn im Wege“. Anders formuliert: Jede Überversorgung bedeutet mehr Profit.
Immer wieder kommt es an die Öffentlichkeit, dass sich die zahnärztliche Praxis nicht am Wohl der Patienten ausrichtet. In aller Regel ist den Patienten die völlig überflüssige Behandlung nicht einmal bewusst. Die Diagnose- und Therapiewillkür ist in der Zahnmedizin gut belegt, doch die Zahnärztekammern, mit der Selbstkontrolle ihres Berufsstandes beauftragt, befassen sich nur marginal mit den Problemen der Überdiagnose und -therapie. Nach ihren Gutachten heißt es dann abschließend bagatellisierend, der Zahnarzt hat die Gebührenordnung weitgehend ausgereizt, oder auch, dass er seinen Handlungsspielraum durchaus intensiv verwertet hat.
Ähnlich unseriöse Praktiken finden sich in der Orthopädie: Wenn Ärzte die Implantation eines künstlichen Gelenkes vorschlagen, ist das oft nicht nur im Interesse des Patienten. Die interne Fragestellung lautet häufig: Wie kann ich am Patienten Geld verdienen?
In der BRD werden immer häufiger sogenannte Gelenk-Prothesen im Knie, in der Schulter und in der Hüfte eingesetzt – vor Jahren die letzte Option, heute hingegen eine schnelle Entscheidung der Ärzte, nicht zuletzt auch für jüngere Patienten.
Der Trend ist laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung96 besorgniserregend. Ob die Operationen dabei tatsächlich medizinisch indiziert sind, ist zweifelhaft. Als eine Erklärung für den enormen Anstieg wird die Tatsache angeführt, dass die Operationen in den letzten Jahren finanziell lukrativer geworden sind. Viele Kliniken schließen deshalb mit niedergelassenen Orthopäden Verträge ab, in denen lukrative Prämien für die Überweisung von Prothese-Patienten vereinbart sind. Auch dieses Beispiel zeigt, dass der Grat zwischen einer notwendigen Therapie und dem Missbrauch der Gesundheit vieler Patienten äußerst klein ist.
Ebenfalls (oder sollte man lieber sagen: Im Besonderen?) sind Interessenkonflikte in der Forschung und in der Lehre allgegenwärtig.
Die Pharmaindustrie zahlt ihren Mitarbeitern, das sind nicht selten junge aufstrebende Mediziner, die ihre Karriere auf die Entwicklung und das Anpreisen neuartiger Therapien gründen, hohe Gehälter, um ihre originären ökonomischen Interessen umzusetzen. Ob evidenzbasierte Studien die Wirksamkeit ihrer Schöpfungen de facto belegen, ist dabei sekundär.
Das Gleiche gilt für einflussreiche Mediziner an Instituten, Professoren an Universitäten und vorgesetzte Ärzte in Kliniken und Labors. Sie kooperieren und befürworten die Projekte der Industrie, indem sie als Dozenten und Berater oder aufgrund ihrer Mitarbeit in den unterschiedlichen Gremien die neuen Produkte der Industrie bewerben. Somit dienen sie als für die Industrie unentbehrliche medizinische Multiplikatoren, denn spätestens ihre Studenten werden die von ihnen kommunizierten Lehrmeinungen in die medizinische Praxis einbringen. Der Wunsch nach Karriere, Ruhm und Anschlussaufträgen führt anscheinend oft zum Verlust ihres professionellen Urteilsvermögens97, denn ihre Forschungsergebnisse passen merkwürdigerweise immer in das Konzept des Auftraggebers.
Abschließend möchte ich die Handlungsweise vieler Ärzte noch aus verhaltenspsychologischer Sicht betrachten. Es ist – erfreulicherweise – nicht immer der schnöde Mammon, der primär ihre medizinischen Entscheidungen maßgebend beeinflusst. Vielfach geraten sie durch äußeren Druck, aus Unerfahrenheit, Unkenntnis oder einfach aus Naivität, in die für die Medizin typischen Interessenkonflikte.
Die Ursachen liegen versteckt in dem spezifischen stringenten Umfeld der Medizin. Schon während ihres Studiums werden die angehenden Ärzte in einem absolut dominanten System konditioniert – konditioniert, um zu gehorchen. Kritikfähigkeit wird ihnen ab dem ersten Semester aberzogen.