DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT. H. T. Thielen
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In letzter Konsequenz muss man die Handlungsweise vieler Hochschullehrer, Ärzte und auch vieler Medizinstudenten unverhohlen als verantwortungslos, ja als Korruption bezeichnen. Sowohl die Pharmaindustrie, aufgrund der Vorteilsgewährung, als auch die Mediziner, infolge der Vorteilsannahme, missbrauchen ihre Stellung zum privaten Profit. Welche Bedeutung dieser Tatbestand für die Patienten bzw. für die ganze Gesellschaft hat, ist in seinen Dimensionen kaum zu ermessen.
In der Medizin verursachen Käuflichkeit und Bestechung nicht allein materielle Schäden. Dass Millionen Menschen zu früh ihr Leben verlieren, zu viele Jahre in Krankheit leben müssen oder infolge der Nebenwirkungen der ausgestellten Medikamente erst krank werden, kann und wird heute niemand mehr leugnen können.83
Interessenkonflikte in der medizinischen Praxis
„Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen.“
(Georg Christoph Lichtenberg)
In der Bundesrepublik haben die meisten Patienten gute Erfahrungen mit ihren Ärzten und das Vertrauen zu der gesamten Berufsgruppe ist im Allgemeinen anhaltend gut. Die Patienten sehen im Arzt einen stets helfenden „Mitstreiter gegen das „Kranksein“, der im Falle eines auftretenden Leidens all seine Energien couragiert für ihre Gesundung einsetzt und jegliche sekundären Interessen, wie zum Beispiel Eigeninteressen finanzieller Art, zurückstellt. Aus berufssoziologischer Sicht spricht man in diesem Kontext von Profession. Die Basis dafür ist die Notwendigkeit einer besonderen Vertrauenswürdigkeit in der Ausübung des Berufes.
Diese glorifizierte Sichtweise auf die medizinische Realität ist allerdings sehr naiv, denn ein nicht zu unterschätzender Teil der Ärzteschaft kalkuliert in ökonomischen Kategorien. Ihre Handlungen sind nicht zuletzt vom Erreichen persönlicher Vorteile motiviert.
Da die spezifischen Einsatzfelder der Ärzteschaft sehr stark variieren, muss man vernünftigerweise auch nach deren primären Motivationen differenzieren.
Die Ärzte in der notfallmedizinischen Versorgung, Ärzte fernab der kurativen Medizin, aber auch die jungen Assistenzärzte in den unterschiedlichen Heilstätten sind nicht selten stark geprägt durch ethisch hochstehende medizinische Ideale84. Sie wollen helfen, haben in der Regel keine eigene Praxis und infolgedessen relativ wenige direkte Kontakte zur pharmazeutischen Industrie. Häufig haben ökonomische Motive nur eine sekundäre Bedeutung für ihr berufliches Handeln, deswegen spielen Interessenkonflikte lediglich eine marginale Rolle.
Bei niedergelassenen Ärzten, vorgesetzten Ärzten in den Kliniken und vielen Ärzten in Forschung und Lehre sieht das allerdings ganz anders aus.
Dennis F. Thompson hat in seiner Schrift „The Challenge of Conflict of Interest in Medicine“ die Problematik der Interessenkonflikte in der Medizin aufgearbeitet. Er sieht, angesichts der engen Beziehungen zwischen Arzt und Pharmaindustrie, die Gefahr, dass die persönlichen Intentionen eine verantwortungsvolle Patientenversorgung oftmals stark beeinträchtigen.85 Verbunden mit dem Sachverhalt, dass Arztpraxen auch wirtschaftliche Unternehmen sind, ergeben sich – wenig überraschend – verschiedenartige Interessenkollisionen.
Ein sehr wichtiger Sachverhalt in diesem Kontext ist die bestmögliche und gleiche Behandlung der einzelnen Patienten.
Die Problematik beginnt oft schon bei der Anfrage nach einem zeitnahen Arzttermin.
Aufgrund des Umstandes, dass bei Privatpatienten eine deutlich höhere Abrechnung der medizinischen Leistungen als bei Kassenpatienten möglich ist, wird eine Gleichbehandlung illusionär; der Privatpatient bekommt deutlich früher einen Arzttermin. Seit einigen Jahren muss man eine, den Sachverhalt noch verstärkende, sehr negative Entwicklung beobachten: Allgemeine Arztpraxen werden vermehrt in Privatpraxen reorganisiert, um über diese berechnende Finesse den finanziellen Gewinn zu maximieren und gleichzeitig dem nicht so lukrativen Kassenpatienten den Zugang zu verwehren.
In der Arztpraxis vor Ort geht die ungleiche Behandlung nahtlos weiter. Viele machen die enttäuschende Erfahrung, dass sie sehr lange, vielfach länger als die Privatpatienten, im Wartezimmer verbleiben, bis sie endlich den Arzt sprechen können – und dann dauert es nur wenige Minuten, bis das Gespräch beendet ist.
Aber auch die Privatpatienten machen die beunruhigende Erfahrung, dass sich ihr Arzt nicht mit der gebotenen Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Erkrankung widmet. Laut einer Meta-Analyse von 197 internationalen Studien aus 67 Ländern liegt Deutschland, in puncto Behandlungszeit, nur im unteren Mittelfeld. Ein Arztbesuch dauert durchschnittlich 7,6 Minuten, in Amerika sind es 21,07 Minuten, in Schweden 22,5 Minuten, also fast das Dreifache.86,87
In den Kliniken sieht es nicht besser aus. Sie haben sich zu fabrikähnlichen Gebilden entwickelt, in denen der Patient, wie ein Rohstoff, durch die einzelnen Fachabteilungen geschleust wird. Alle nur denkbaren Untersuchungen werden durchgeführt: Es muss Umsatz generiert werden. Ausführliche Gespräche sind jedoch eine Seltenheit, denn sie bringen keinen Gewinn.
Es ist naheliegend, dass sich sehr kurze Arzt-Patient-Gespräche sowohl auf die Krankheitserkennung als auch auf die Therapie sehr nachteilig auswirken. Die Ärzte wissen selbst, dass diese kurze Zeitspanne kaum ausreicht, um eine deutlich sichtbare Krankheit zu erkennen, geschweige denn, um schwerwiegende gesundheitliche Probleme zu diagnostizieren und zu behandeln. Und doch ist dieser fatale Umstand, auch in der Bundesrepublik Deutschland, eine allgemein bekannte und anscheinend akzeptierte Realität.
Eine gute und angemessene Kommunikation, ein Vertrauensverhältnis mit den Menschen, denen man sein Schicksal in die Hände legt, ist für die Patienten eine enorm wichtige Basis für die Genesung. In der Lehre ist dies längst bekannt. Man spricht von „Shared Decision Making“ oder partnerschaftlicher Entscheidungsfindung. Wenn alle relevanten medizinischen Informationen dem Patienten in verständlicher Form vorliegen und der Entscheidungsprozess gemeinsam gestaltet wird, dann wird die Therapie meist erfolgreicher verlaufen.88
Medizin ist eine absolute Beziehungsdisziplin, in der die Interaktionen – ganzheitlich – zwischen allen Beteiligten den Heilungsprozess erst entfacht. Das Heilverfahren ist dann erfolgreich, wenn die Ärzte das Richtige in einer positiven Beziehung vermitteln. Gespräch ist Therapie. Andere Staaten haben dies erkannt, gehandelt, und aufgrund dessen die Patientenanzahl pro Arzt explizit begrenzt. Damit wird der Interessenkonflikt – mehr Patienten, mehr Einnahmen – substanziell reduziert und überdies die Möglichkeit geschaffen, das Zeitfenster des Arzt-Patient-Gespräches zu erweitern.)
Das hierzu oft angeführte Argument der Ärzte, allen hilfesuchenden Patienten zu helfen und sie mit ihrer Krankheit nicht alleine zu lassen, ist zweifellos eine ehrenvolle Begründung und in bestimmten Situationen geradezu verantwortungsvolle Pflicht. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass die „7,6-Minuten-Praxis“ zum Regelfall wird.
Die möglichen Folgen sind ärztliche Behandlungsfehler. Sie sind ein prägnantes Beispiel für fehlende Sorgfalt und ungenügende Anamnese aufgrund von Zeitmangel bei der Diagnostik. Laut einer Studie der Universität Witten/Herdecke sterben jährlich allein in deutschen Kliniken mehr als 21.000 Patienten durch vermeidbare Behandlungsfehler. Dazu kommen noch ca. 190.000 Fehler ohne Todesfolge; die Dunkelziffern sind nicht publik.89
Zu viele, denn jeder Fehler ist einer zu viel.
Behandlungsfehler darf man gleichwohl nicht mit Pfusch gleichsetzen,