DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT. H. T. Thielen
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Die Identität des Arztes hat in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Transformation erfahren. Vornehmlich niedergelassene Ärzte sind heute aufgrund politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen gezwungen, sich an die Mitbewerber auf dem Gesundheitsmarkt anzupassen und privatwirtschaftliche Managementmethoden in den Praxisbetrieb einzuführen. Aus der Zweierbeziehung Arzt-Patient wurde die Dreierbeziehung Arzt-Krankenkasse-Patient. Damit ist der Arzt nicht mehr allein dem Patienten verpflichtet, ihm die bestmögliche Behandlung zu geben, sondern gleichzeitig die effizienteste Methode anzuwenden. Es geht, wie fast überall in der Welt, um finanzielle Gewinne. „Geschäftsethik – Maximierung von Gewinn – und medizinische Ethik sind immer öfter nicht mehr miteinander vereinbar, aber untrennbar miteinander verbunden.“51
Das Studium der Medizin
Es ist für die jungen Menschen unmittelbar nach dem Erreichen der Hochschulreife kein einfacher Prozess, eine schlüssige Entscheidung für den zukünftigen Beruf zu treffen. Noch unreif und unerfahren müssen sie relativ kurzfristig zu dem gewichtigen Entschluss gelangen, welche berufliche Richtung sie einschlagen wollen.
Aber warum gerade Arzt werden?
In dieser frühen Phase der Berufswahl sind persönliche Veranlagungen und Neigungen, folglich intrinsische52 Auslöser, entscheidend. Der Wunsch, Arzt zu werden, ist oft schon in den Kindertagen entwickelt, aber auch prosoziales Denken und das idealistische Bestreben nach dem „Guten und Wahren in der Welt“ spielen eine bedeutungsvolle Rolle. Fachliches Interesse und das Streben nach Ansehen und Sicherheit sind für die jungen Leute weitere signifikante Motive, denn der gesellschaftlich hochwertige Status des Arztes ist in der Öffentlichkeit allgemein bekannt.
Dorothea Osenberg et al. haben 2010 in einer Studie an Studierenden der Medizin untersucht, welche Hauptmotive sie zu ihrem Studium inspiriert haben.
Am häufigsten wurde das Interesse an medizinischen Zusammenhängen angegeben (41,1 %). Die Motivation zur Hilfeleistung (15,7 %), die Vielseitigkeit der möglichen Berufsausübung (17,7 %) und die Freude am Kontakt mit Menschen (14,2 %) waren weitere häufig genannte Beweggründe.53)
Eine Studie von Gillian Maudsley et al. (2007) zeigt ein vergleichbares Ergebnis. Dieser Untersuchung zufolge hatte der Wunsch, mit Menschen zu arbeiten und ihnen im Krankheitsfall zu helfen sowie fachliches Interesse an der Medizin ebenfalls eine zentrale Bedeutung.54
In einer anderen Studie von 2009 (Markus Schrauth et al.) – ebenfalls an Medizinstudenten durchgeführt – wurde gefragt, welche Eigenschaften ein zukünftiger Arzt haben sollte.
An erster Stelle stand höchste Fachkompetenz, danach folgten Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit, Freundlichkeit, Sicherheit, Gründlichkeit und Sympathie – alles ehrenwerte Eigenschaften und Ideale, welche wir Patienten gerne an unseren Ärzten sehen. Die Frage, ob diese edlen Wesenszüge auch die persönlichen Erfahrungen mit Ärzten widerspiegeln, wurde von den Studierenden allerdings häufig verneint.55
Zunächst sind diese idealistischen und sehr ehrbaren Beweggründe der Studierenden für ihre Berufswahl „Arzt“ in hohem Maße positiv zu bewerten. Fachliche Kompetenz, Empathie und der Wunsch, anderen Menschen zu helfen, sind exakt die Attribute, die man von einem guten Arzt erwartet. Betrachtet man die Ergebnisse der Studie jedoch im Detail, so ergibt sich ein inkonsistentes Bild.
In der Studie von Dorothea Osenberg et al. gaben lediglich 41,1 % der Medizinstudenten als Hauptgrund für ihr Medizinstudium „Interesse an medizi- nischen Zusammenhängen“ an. Das ist weniger als die Hälfte! Was ist mit den anderen 58,9 %, welche diesen Beweggrund nicht genannt haben?)
15,7 % der Studierenden erachten es als relevant, Menschen zu helfen. Das ist eine enttäuschende Zahl. Anscheinend haben sich die ehrbaren Impulse für die spezifische Berufswahl schon während des Studiums stark verschoben. Was ist mit den übrigen 84,3 %?
14,2 % freuen sich auf den Kontakt mit anderen Menschen. Was ist mit den fehlenden 85,8 %?
Ebendies bedeutet auch, dass die ethischen Werte des Arztberufes, anderen Menschen zu helfen und die Verpflichtung zum Dienst an der Gesellschaft, bei den Medizinstudenten während des Studiums an Gewicht verlieren und später – traurigerweise ist dies zu befürchten – bei manchen Ärzten nur noch eine sekundäre Position einnehmen.
Michael Ramm et al. haben 2005 Studierende der Medizin im Hinblick auf extrinsische Motive56 wie Einkommen, Karriere und Arbeitsplatzsicherheit befragt.
Die Chance auf ein hohes Einkommen war für 22 % der befragten Studierenden sehr wichtig, von 43 % der Befragten wurde es als eher wichtig eingeschätzt. Die Chance als Mediziner Karriere zu machen war für die Befragten ebenso von großer Bedeutung: 30 % der Befragten empfanden die Aussicht auf eine Führungsposition als sehr wichtig, weitere 20 % fanden dies relativ wichtig. Auch die spätere Arbeitsplatzsicherheit als Mediziner – dies nannten sogar 70 % der Befragten – war ein relevantes Motiv für die Studienwahl.57
Christoph Heine et. al. haben 2005 in ihrer Studie ein vergleichbares Ergebnis erhalten. Jeder zweite Studierende nannte den sozialen Status in seinem späteren Beruf als sehr wichtige Begründung für die Studienwahl. Neben den persönlichen Interessen und Stärken spielen daher die späteren Verdienstmöglichkeiten sowie die Zukunftssicherheit des Arztberufes eine signifikante Rolle bei der Wahl des Studienfaches Medizin.58)
Das Ergebnis der Studie ist naheliegend, denn Ärztinnen und Ärzte genießen ein hohes gesellschaftliches Prestige. Laut einer Forsa–Umfrage zählen Ärzte zu den Berufsgruppen, vor denen die Deutschen am meisten Achtung haben (87 %).59 Im Übrigen ist allgemein bekannt, dass Ärzte weltweit mit zu den Topverdienern in der Gesellschaft gehören. So sind die späteren Verdienstmöglichkeiten in Verbindung mit sozialem Ansehen bei den Medizinstudenten verständlicherweise ein äußerst relevanter Aspekt bei der Studienwahl.
Die Popularität des Medizinstudiums zeigt sich demzufolge auch in einer enormen Nachfrage nach den vergleichsweise wenigen Studienplätzen. Um den Bedarf an medizinischem Fachpersonal abzudecken – die personellen Anforderungen infolge steigender Krankheitsfälle nehmen in Deutschland stetig zu60 – wurde das universitäre Angebot in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht. Jährlich bewerben sich gegenwärtig etwa 43.000 Abiturienten auf rund 9.200 Studienplätze, und die Tendenz zum Arztberuf ist weiter steigend.61
Wer heute Humanmedizin studieren will, der muss sich, im Vergleich mit anderen Fachdisziplinen, auf eine längere Studienzeit einstellen. Abhängig vom Bundesland und der jeweiligen Hochschule sind ca. 12 bis 14 Semester obligatorisch.
Der Verlauf des anspruchsvollen Medizinstudiums ist durch die Approbationsordnung62 von 2002 geregelt und unterteilt sich im Regelfall in drei Teilgebiete: die vorklinische Ausbildung, sie dauert ca. zwei Jahre und vermittelt die theoretischen Grundlagen, den klinischen Teil, er dauert ca. drei Jahre und verbindet Theorie und Praxis, sowie das abschließende praktische Jahr.
Als sogenannte „Vorklinik“ werden die ersten vier Semester des Medizinstudiums bezeichnet. In dieser Phase werden die grundlegenden, naturwissenschaftlichen Fächer Chemie, Biologie, Biochemie, Anatomie, Physiologie und die medizinische Psychologie / Soziologie vermittelt. Das sogenannte Physikum, das erste Staatsexamen, stellt den Schlusspunkt dieser Stufe dar.
Im sich anschließenden klinischen Abschnitt steht das Erlernen des therapeutischen Handelns im Mittelpunkt. Er ist in zwei Phasen gegliedert: die klinisch-theoretischen und die klinisch-praktischen Fächer.
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