DAS MEDIZIN-ESTABLISHMENT. H. T. Thielen
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Neben diese klassische pathogenetische Sichtweise sind in den letzten Jahrzehnten verschiedene neu entwickelte Konzepte mit erweitertem Erklärungsansatz getreten.
In den 70er Jahren formulierte der US-amerikanische Sozialmediziner George L. Engel ein erweitertes Krankheitsmodel, das „bio-psycho-soziale Krankheitsmodell“, welches sich nicht auf ein körperliches Phänomen reduziert, sondern Körper, Seele und Milieu einbezieht (Leib-Seele-Dualismus).29 Aufgrund seiner „Ganzheitlichkeit“ wurde dieses Modell zu einem wegweisenden Leitbild in den Gesundheitswissenschaften.
Etliche Forscher folgten diesem Gedankengang. Der Physiologe Robert F. Schmidt bezieht sich in seiner Definition von Krankheit beispielsweise ebenfalls auf dieses Modell und deutet sie als „das Vorliegen von Symptomen und/o der Befunden […], die als Abweichung von einem physiologischen Gleichgewicht oder einer Regelgröße (Norm) interpretiert werden können und die auf definierte Ursachen innerer oder äußerer Schädigungen zurückgeführt werden können“.30
Im Medizinlexikon „DocCheck Flexikon“ wird Krankheit, in Bezug auf das bio-psycho-soziale Modell, als „eine Störung der normalen physischen oder psychischen Funktionen [beschrieben], die einen Grad erreicht, der die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden eines Lebewesens subjektiv oder objektiv wahrnehmbar negativ beeinflusst. Die Grenze zwischen Krankheit und Befindlichkeitsstörung ist fließend“31. Krankheit ist in diesem Sinne ein Zustand verminderter Leistungsfähigkeit, der aufgrund von Funktionsstörungen der Organe, der Psyche oder des gesamten Organismus ausgelöst wird.
Anhand dieser allgemein gebräuchlichen Begriffsbestimmungen wird zunehmend deutlich, dass Krankheit und Gesundheit keine eindeutig determinierten Termini sind und sich nicht exakt voneinander abgrenzen lassen, wie es in der pathogenetischen Sichtweise angenommen wird. Sie sind ein gegeneinander agierender und geschlossener dynamischer Prozess.
Auf dieser Basis erarbeitete der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky in den 70er Jahren das Konzept der „Salutogenese“32. Die Mediziner sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“33, d. h., dass wir weder ganz gesund noch krank sind, sondern wir befinden uns entweder näher am Pol Gesundheit oder eben weiter davon entfernt in Richtung Krankheit.)
Unser gesamtes Leben ist ein „Gesundheits-Krankheits-Kontinuum“, da wir ständig unsere Befindlichkeitspositionen wechseln. Manchmal sind wir näher am Eckpunkt Gesundheit und fühlen uns gesund, verschiedentlich sind wir jedoch weiter davon entfernt und damit krank. Unsere temporäre Befindlichkeit, also das Stadium, in dem wir uns befinden, hängt dabei von einer Vielzahl divergenter Faktoren ab, wie z. B. vom sozialen Umfeld, den psychologischen und biologischen Dispositionen, von den vielfältigen Umwelteinflüssen und der Lebensgeschichte der Menschen, die auf uns einwirken.34
Das Konzept der Salutogenese stellt Gesundheit und die gesundheitsförderlichen Voraussetzungen in den Mittelpunkt seiner Maßnahmen, indem es untersucht, auf welche Weise sich die Menschen in Richtung Gesundheit entwickeln und welche Ressourcen hierzu erforderlich sind.35 Sein oberstes Prinzip ist die Prävention. Durch Vorsorgemaßnahmen und Stärkung der Gesundheit wird Krankheit verhindert.36
Dieses und andere neuere Modelle sehen den Menschen ganzheitlich, „als ein strukturiertes, nach außen hin offenes System, dessen Teile in wechselseitiger Beziehung zueinander, zur Gesamtheit und zur Außenwelt stehen. Faktoren, die hier einwirken, sind die eigene Person (verstanden als Einheit von Körper, Seele und Geist), die soziale Umwelt (Mitmenschen, Gesellschaft), die natürliche Umwelt (Wasser, Boden, Luft, Klima), die künstliche Umwelt (Technik und Wissenschaften) und Übersinnliches (Religion, Glaube).“37 Die Deutung und die Heilbehandlung von Krankheiten dürfen deshalb nicht allein auf der körperlich-physiologischen Ebene erfolgen, wie es die Schulmedizin vorgibt, sondern sie müssen Mensch und Gesellschaft mit ihren psychischen und sozialen Determinanten mit einschließen.
Unter dem Begriff der Ganzheitlichkeit sind therapeutische Grundsätze subsumiert, die sich folglich nicht allein auf die Behandlung des erkrankten Organs, sondern auf den ganzen Menschen konzentrieren. Ebendies ist zwingend erforderlich, denn die kranken Menschen haben eine persönliche Vergangenheit, welche mit dem jeweiligen sozialen Umfeld verwoben ist. Ziel der medizinischen Behandlung darf es nicht sein, einen statistischen Mittelwert herbeizuführen (Pathogenese), sondern es gilt ein neues, individuelles Gleichgewicht zu finden. „Kranksein ist weder auf eine biologische, soziale oder psychologische Dimension zu reduzieren, sondern muss die Gesamtheit der Bezüge aus der Perspektive der Patienten berücksichtigen.“38 Auf diese Weise können die wesentlichen Variablen gefunden werden, um den Menschen wieder auf den erstrebenswerten Pol in Richtung Gesundheit zu bewegen. Nicht die Krankheitsursachen und die Risikofaktoren stehen im Vordergrund der Behandlung, sondern der Prozess des Gesundwerdens und die Gesunderhaltung.
In der Praxis hat sich der ganzheitliche Ansatz der Salutogenese als äußerst erfolgreich bewährt.39 Ungeachtet dessen praktizieren gegenwärtig die meisten Ärzte weiterhin nach dem klassischen Konzept der Pathogenese, welches auf dem schulmedizinischen Weltbild des 19. Jahrhunderts aufbaut.40 Dies ist fraglos auf die gegenwärtig immer noch traditionellen Inhalte der medizinischen Ausbildungsgänge zurückzuführen. Daneben spielt die Zeitspanne der Anamnese41 (sie beträgt in Deutschland durchschnittlich ca. 7,6 Minuten42, Kritiker sprechen von „Minutenpraxis“) eine ebenso mitentscheidende Rolle. In dieser kurzen Verweildauer beim Arzt kann eine sinnvolle, ganzheitliche Therapie nicht stattfinden.
Obgleich die medizinischen Modelle – Pathogenese und Salutogenese – im Grundprinzip stark voneinander abweichen, ist die allgemein übliche Behandlungsweise der Ärzte, auch bei offiziell differentem Denkansatz, weitestgehend identisch. Unter Zuhilfenahme der Anamnese und der Auswertung der Untersuchungsergebnisse43 wird eine Diagnose44 erstellt. Diese ist routinemäßig die Grundlage für die Entscheidung über eventuell notwendige Therapien und dient der Prognose über die weitere Entwicklung der Krankheit sowie entsprechender Präventionsmaßnahmen.
Unser gesamtes medizinisches System ist nach heutigem Stand durchgängig auf dieser konservativen pathogenetischen Verfahrensweise aufgebaut: Wer krank ist, geht zum Arzt und wird hinsichtlich seiner Beschwerden therapiert; wer gesund ist, geht gegebenenfalls zur Vorsorge, andernfalls meidet er nach Möglichkeit die ärztliche Praxis.)
Ein Beispiel:
Ein Patient hat hohen Blutdruck. Er geht zum Arzt und dieser verschreibt ihm eine Arznei, um den Blutdruck zu senken. Wirkt das Medikament, so sind Arzt und Patient zufrieden!
Fatalerweise ist diese Form der Behandlung ein großer Fehler, denn die Frage (bzw. Ursache), weshalb der Patient einen hohen Blutdruck hat, ist nicht beantwortet (bzw. nicht gefunden) und wird meist nicht behandelt.
Ein Grund könnte Sauerstoffmangel in einem Organ oder im Gehirn sein. Rezeptoren melden dem Gehirn, dass Sauerstoffmangel irgendwo im Organismus vorhanden ist. Der Körper reagiert mit der Erhöhung der Herzfrequenz und damit des Blutdrucks, um den Sauerstoffmangel auszugleichen.
Durch das Medikament wird zwar der Blutdruck des Patienten gesenkt, das Problem im Organismus jedoch nicht beseitigt. Im Gegenteil: Es könnte sich sogar verschlimmern, da