Gottes Feuer. E.D.M. Völkel
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Ihr Treffer in Schwalbach erwies sich als korrekt. Hier lebte noch eine Familie Mertens, die den markanten Vornamen weitergegeben hatte. Eva nahm erst einmal telefonischen Kontakt auf, und bevor Frau Mertens am anderen Ende auflegen konnte, schob sie erneut die Dokumentation in den Vordergrund und bat sie um Mithilfe. Das Zögern ihres Gegenübers gab Eva die Chance, näher auf ihr Vorhaben einzugehen und sie bat darum den ehemaligen Soldaten sprechen zu dürfen, falls er noch lebte.
»Mein Vater ist bereits Anfang 1994 verstorben«, entgegnete sie zurückhaltend.
»Meine Anteilnahme. Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewusst«, Eva machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach.
»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, ich suche Zeitzeugen, oder deren Kinder und Enkel, die möglicherweise Geschichten aus diesen Jahren wissen und mir davon erzählen. Es geht mir rein um den Inhalt, ich verwende keine Namen«, versicherte sie. Frau Mertens zögerte, Eva spürte ihren Zwiespalt, »Verzeihen Sie, ich bin eine völlig Fremde am Telefon, die Sie ausfragt, ich kann verstehen, wenn Sie nicht mit mir sprechen möchten, aber vielleicht haben Sie einen Namen oder einen Verein, den ich kontaktieren könnte.« Stille am anderen Ende der Leitung.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
Frau Mertens senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »Warten Sie, verraten Sie auf keinen Fall, das ich Ihnen die Information gegeben habe. Es ist zwar schon alles sehr lange her, aber mein Bruder will nicht, das ich mit jemandem darüber rede. Volker-Kaspar trifft sich immer Mittwochs in der Lindenschänke mit Gleichgesinnten. Sie sind alle die Söhne von Ehemaligen und diskutieren über die unwahrscheinlichsten Zukunftsmodelle, wenn der Krieg anders ausgegangen wäre. Ich glaube dort erhalten Sie die gesuchten Informationen.«
»Das ist großartig, ich danke Ihnen. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten«, blitzschnell überlegte Eva, ob es respektlos wäre Frau Mertens nach vorhandenen Briefen oder Ähnlichem zu fragen. »Verzeihen Sie, ich möchte nicht unverschämt erscheinen aber befinden sich in Ihrem Besitz vielleicht noch Feldpostbriefe oder andere Aufzeichnungen?«
»Hm, mein Bruder hat seine Hand auf diesen Dingen. Er rückt auch nicht ein Zipfelchen davon raus, geradeso als wäre es der Heilige Gral.« Jetzt kam sie richtig in Fahrt, vergaß alle Vorsicht und die Angst vor ihrem Bruder. »Immer wieder sage ich ihm, er solle endlich die Vergangenheit ruhen lassen, der Krieg ist über 70 Jahre her, du bist 67 und wir leben heute im Jahr 2017. Lass‘ los und geb‘ letztendlich Ruhe. Begrab‘ die Geister der alten Zeit.« Der Damm war gebrochen, es war unmöglich, ihren ausgelösten Redefluss zu unterbrechen, Eva sagte lediglich, »Ja, aha, Hm, Ach?«
»Reicht es nicht, dass Vater bei einem seiner nächtlichen Streifzüge auf dem ehemaligen Flugplatz zu Tode gestürzt ist? Willst du genau wie er an den alten und verfluchten Geschichten festhalten? Doch was macht mein sauberer Herr Bruder? Geht jeden Mittwoch in die Lindenschänke und bespricht die große Politik, was wäre wenn. Sagt mir, ich hätte eh keine Ahnung und sei zu einfältig, um die Bedeutung und die Wichtigkeit begreifen zu können. Diese Art Wissen würde nur vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Nur wenn kein Sohn mehr zur Verfügung stünde, müsste bedauerlicherweise eine Tochter eingeweiht werden. Ich solle mich lieber um meinen Weiberkram kümmern und ihm als Mann die Entscheidungen überlassen. Pah, was er sich einbildet. Ungeheuerlich, anmaßend und wie vor 160 Jahren, gerade so als hätten wir Frauen heute nix zu sagen.«
Eva wurde hellhörig, sie war auf der richtigen Spur. Frau Mertens lieferte unwissentlich viele wertvolle Informationen. Jetzt hatte sie bereits Feodor Schling, Otto Freckel und Rolf-Kaspar Mertens gefunden. Die beiden anderen Albert und Ernst würde sie auch noch aus der Versenkung holen. Als ihr Gegenüber Luft holte fragte sie schnell, »Um wie viel Uhr treffen sich die Männer in der Lindenschänke?«
»18 Uhr, ganz pünktlich auf die Minute. Wenn Sie tatsächlich hin wollen, kommen sie eine halbe Stunde später, die mögen es gar nicht vor dem ersten Bier gestört zu werden. Dann sind die richtig eklig.«
»Vielen Dank, Sie haben mir weitergeholfen und wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an. Hier ist meine Handynummer«, bot sie Frau Mertens verschwörerisch an.
Am folgenden Mittwoch ging Eva zu diesem Treffen und versuchte weitere Informationen aufzuschnappen. Doch wie von Frau Mertens prophezeit, verhielten sich die Söhne der Ehemaligen zugeknöpft bis unters Kinn. Sie witterten sofort Gefahr. Hier gab es eine neugierige, Neunmalkluge, die unbedingt noch eine, der völlig überflüssigen Dokumentationen schreiben musste. Davon gab es reichlich und alle Vorstellungen und Interpretationen der Zeitgeschehnisse waren falsch. Diese sogenannten Experten hatten keine Ahnung von dem wahren Wissen, den tatsächlichen Gründen, ein neues Reich aufzubauen. Alle miteinander spekulierten und unterstellten die ungeheuerlichsten Absichten der ehemaligen Vorbilder. Erkannten nicht wie außerordentlich wichtig die neue Ordnung war.
Sie erzählten Eva nur Belangloses, was sie bereits im Internet und auf der Homepage zur Stadtgeschichte gelesen hatte. Sie ihrerseits revanchierte sich, blieb ebenfalls sehr vage und allgemein in ihren Fragen. Rasch bemerkte sie, ›Die ehrenwerten Herren wollen mich aushorchen, möchten erfahren, ob ich irgendetwas herausgefunden habe, das ihnen möglicherweise gefährlich werden könnte.‹ Sie beantwortete die hinterhältigen Fangfragen der Anwesenden geschickt, machte viele Worte, die jedoch nichts aussagten. ›Spiele das Dummchen, welches ihre erste richtige Dokumentation schreibt und jede Menge Hilfe benötigte.‹ Lauernde Blicke waren auf ihr Gesicht geheftet um jede Regung, jeden Versprecher zu registrieren. Diese Männer ließen sie ganz genau spüren, was sie von ihrer Tätigkeit hielten. Das war in ihren Augen verwerflich, sie gehörte zu ihrer Familie und den Kindern, Frauen hatte nichts in der Politik verloren. Dies war reine Männersache.
Nach endlosen drei Stunden verabschiedete sie sich höflich, lief die Straße hinunter zu ihrem Auto. War das die Nachwirkung des Abends oder hatten diese Herren es tatsächlich geschafft ihr etwas Furcht einzupflanzen? Wie zufällig drehte sie sich um, folgte ihr jemand? Der Schatten im Hauseingang? Erneut kroch ein nicht benennbares Unbehagen in sie, ließ ihre Nackenhaare abstehen und ein eisiger Schauer rieselte durch ihren Körper. Flink schloss sie die Fahrertür auf, setzte sich erleichtert und verriegelte die Tür von innen. Alles in allem war dies ein erschreckender Abend. Was sie nicht für möglich gehalten hatte, war Realität. Es gab immer noch Verfechter der -wahren- Werte und in ihren Köpfen war die Zeit stehengeblieben. Leider hatte sie keine Bestätigung, zu Frau Schlings Geschichte bekommen. Wie viel Wahrheit und Erfindung steckte in der Erzählung? Gab es tatsächlich ein Geheimnis zu lüften? Die ersten Bedenken meldeten sich, Unsicherheit bemächtigte sich ihrer und Zweifel verselbstständigten sich, wollten ihre Zielstrebigkeit unterlaufen.
›Nein, das lasse ich nicht zu. Ihr macht mir keine Angst, da habe ich bereits Gefährlicheres erlebt.‹ Fest entschlossen ihre neue, selbst ausgesuchte Arbeit, nicht gleich bei den ersten Problemen oder Schwierigkeiten hinzuwerfen, drehte sie den Zündschlüssel. ›Jetzt erst recht. Ihr habt genau das Gegenteil erreicht. Ich suche weiter.‹
Juli 2017
Peter Schröder
Dicke Regentropfen prasselten, in einem immer schneller werdenden Rhythmus, auf das Dachfenster über ihrem Schreibtisch.
›Moritz treibt mich in den Wahnsinn, schon wieder hat er in meinen Notizen gelesen und die vorsortierten Berichte durcheinandergebracht. Das geht so nicht weiter, ich muss dringend