Taunusgier. Osvin Nöller

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Taunusgier - Osvin Nöller Melanie-Gramberg-Reihe

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Stadtstreicher erschien wieder und hatte sich mit sauberen Kleidern und ordentlich gekämmten Haaren völlig verändert. Wenn ­Melanie ihm so begegnet wäre, hätte sie in ihm niemals einen Obdachlosen vermutet.

      Er setzte sich an den Nachbartisch und ­Sabrina brachte ihm Schnitzel mit Bratkartoffeln und ein Weizenbier, das er in zwei Zügen austrank. ­Sabrina nahm das leere Glas und stellte ihm kurz darauf ein neues hin. Er schien ausgehungert, so wie er sich über das Essen hermachte. Die seitliche Tür öffnete sich und eine Gruppe Senioren kam aus dem angrenzenden Raum. Sie gingen zum Tresen, bezahlten und verließen das Lokal.

      Eine Grauhaarige, die ihre langen Haare zu Zöpfen geflochten hatte und ein bodenlanges schwarzes Kleid trug, kam ebenfalls aus der Nachbarstube. Das silberne Amulett an ihrem Hals war für ­Melanies Geschmack ein wenig zu wuchtig und erinnerte sie an Indianerschmuck. Ihre dünnen Lederschuhe konnte sie auf einem Mittelaltermarkt erworben haben.

      ­Melanie sah aus dem Augenwinkel, dass der Graf einen Moment zu essen aufhörte und der Frau nachblickte, als sie an ihm vorbeiging, ohne ihn zu beachten. Sein Gesicht verzerrte sich. Wut oder Angst?

      Das Publikum war hier irgendwie speziell. Gestern der Langhaarige und der Junge, der vielleicht ein Rechtsradikaler war, heute der obdachlose Adlige und die Althippiefrau. Interessant!

      ­Rosenthal, der die Szene anscheinend nicht wahrgenommen hatte, räusperte sich. „Hallo, sind Sie noch bei mir?“, erkundigte er sich mit einem ironischen Unterton.

      Sie fuhr zusammen. „Oh, Entschuldigung. Ich war wohl in Gedanken.“

      Ihr Gesprächspartner lachte. „Das war nicht zu übersehen. Ich habe Sie gerade gefragt, woher Sie kommen.“

      ­Melanie erzählte von Hamburg. Sie traute sich nicht, nach Jan Wolter zu fragen, denn sie befürchtete, neugierig zu wirken.

      ­Rosenthal half ihr. „Ist ja lustig! ­Sabrinas Freund, von dem ich vorhin sprach, kam ebenfalls aus Hamburg. Er hieß Jan Wolter.“ Jetzt fehlte nur noch, dass er sie fragte, ob sie den Verschollenen kenne.

      „Wer ist sie?“, wechselte ­Melanie das Thema und zeigte mit dem Kopf in Richtung Tresen, an dem die Frau mit den Zöpfen bei ­Sabrina stand.

      „Das ist Marion Klettke. Sie kümmert sich mit ihrem Lebensgefährten um Senioren aus der Region. Werner Mumer ist heute anscheinend nicht da. Die beiden sind richtige Alt-68er und geben sich nach wie vor so. Waren damals bei den Studentenunruhen in Frankfurt dabei und haben an der Startbahn West Steine geworfen. Allerdings haben sie die Kurve gekriegt und viel Geld verdient. Nun können sie sich ihre Spleens leisten.“ Es hörte sich wie eine einfache Feststellung an, ohne die geringste Andeutung von Neid.

      Der Graf erhob sich abrupt. Langsam kam er zu ihrem Tisch, blieb stehen und beugte sich zu ihnen.

      Seine Stimme klang sonor. „Na, Ralf, da hast du ja eine Hübsche gefunden. Willst du sie mir nicht vorstellen?“

      ­Melanie befürchtete bereits, er wolle aufdringlich werden, als er lauter sprach. „Mädchen, du bist mir sympathisch. Deshalb ein Rat: Pass auf dich auf. Hier geschehen merkwürdige Dinge!“ Er zwinkerte ihr zu.

      ­Sabrina tauchte neben ihm auf. „Lass gut sein, Siggi! Du vergraulst mir ja die Gäste.“

      Der Angesprochene funkelte ­Melanie aus schwarzen Augen an. „Es gibt hier böse Menschen“, murmelte er.

      Ruckartig wandte er sich zur Wirtin um. „Danke, mein Schatz, bis bald mal wieder.“ Plötzlich hatte er es eilig und nahm seinen Rucksack, um in wenigen Sekunden nach draußen zu verschwinden.

      21. April

      ­Melanie stand in der Dorotheenstraße vor der gigantisch wirkenden Erlöserkirche. Bereits der äußere Anblick des Gotteshauses mit den vier Türmen erinnerte sie an eine Kathedrale. Als sie den Innenraum betrat, ließ sie die Inneneinrichtung einige Minuten auf sich wirken. Aufgrund des dunklen Wandmarmors und der riesigen Goldmosaike im Deckengewölbe, kam ihr die Hagia Sophia in Istanbul und deren byzantinischer Baustil in den Sinn. Sie überlegte eine Weile, ob das in der Kuppel hängende Lichtkreuz dazu passte, akzeptierte es dann schließlich. Interessant empfand sie zudem die Besucherplätze, die aus einfachen Stuhlreihen bestanden.

      Sie hätte ewig hier stehen und die Atmosphäre aufsaugen können. Wann war sie zuletzt in einer Kirche gewesen? Vermutlich bei ihrer Konfirmation und das war zwanzig Jahre her. Auch wenn der Ort keinen vollwertigen Ersatz für ihren geliebten Strandkorb darstellte, fühlte sie sich hier geborgen. Ein wunderbarer Platz, um zur Ruhe zu kommen und die Gedanken fließen zu lassen.

      Sie schlenderte zu einem Stuhl in der hintersten Ecke und setzte sich. Das würde ihr Stammplatz werden. Plötzlich dachte sie an den Vater. Sie nahm das Handy aus der Jackentasche und las wieder Anjas Kurznachricht vom Morgen. Er habe sich spürbar erholt, nachdem in den Tagen davor das Schlimmste zu befürchten gewesen sei. Er registriere die Umwelt, und sein Zustand wäre stabil, trotzdem sei nicht damit zu rechnen, dass sich die Lähmungserscheinungen und das Sprachvermögen deutlich verbessern könnten. ­Melanie steckte das Telefon wieder ein und lächelte. Die Worte gaben ihr Hoffnung.

      Ihre Gedanken wanderten zu der Gaststätte, in der sie den Schlüssel zu Jan Wolters Verschwinden vermutete.

      Die Menschen, die sie bisher getroffen hatte, erschienen ihr ungewöhnlich und bei manchem spürte sie ein Geheimnis. Sah man vielleicht von ­Rosenthal ab, der nett und normal wirkte.

      ­Melanie wurde vor allem aus dem merkwürdigen Auftritt des obdachlosen Grafen nicht schlau. Weshalb hatte er ausgerechnet an ihrem Tisch die düsteren Sätze gesprochen, die wie eine Warnung klangen.

      Genauso interessierte sie der aggressive Rechte. Warum trieb sich Schneider in der Wirtschaft rum, obwohl er Hausverbot hatte. Wollte er provozieren oder verbarg sich etwas Ärgeres dahinter? Mit wem hatte er sich am Brunnen im Kurpark getroffen? Der Rotbärtige hatte auf sie den Eindruck gemacht, als erteile er dem Jungen Aufträge. Es war zu schade, dass sie nicht herausgefunden hatte, wer er war. Mittlerweile war sie sicher, dass er sie bemerkt und im Parkhaus bewusst abgehängt hatte. Sonst wäre er bestimmt mit einem Auto herausgekommen und sie hätte sich das Kennzeichen merken können. Anscheinend war er durch einen der Fußgängerausgänge verschwunden. Blöd gelaufen, aber nicht mehr zu ändern. Allerdings war sie fest davon überzeugt, ihn wiederzusehen.

      ***

      Im Silbernen Bein saßen Marion Klettke und ein untersetzter Mann, der ihr in Sachen Hippieaussehen in nichts nachstand an einem der Tische. Das musste dieser Werner Mumer sein, von dem ­Rosenthal gesprochen hatte. Er schien etwas älter als Marion zu sein. Die einzig an den Schläfen und dem Hinterkopf vorhandenen braunen Haare waren im Nacken zu einem langen Zopf zusammengefasst. Zu einem bunten Hemd trug er eine schwarze Lederhose und Sandalen, aus denen grellgrüne Socken lugten. Vor ihnen standen gerippte Gläser mit einer gelblichen Flüssigkeit.

      ­Rosenthal winkte ­Melanie vom Stammtisch aus zu.

      „Hallo, Herr ­Rosenthal.“ Sie setzte sich unaufgefordert zu ihm.

      Er grinste sie an. „Ralf! Hier duzen sich alle.“

      „Gern, wenn du mich Mel nennst.“ Irgendwie mochte sie ihn.

      ­Sabrina kam mit einem Lächeln herbei und stellte eine Kräuterlimonade auf den Tisch. Zu ­Melanies Überraschung nahm sie ebenfalls Platz.

      „Wie

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