Alter Mann im Bus. Bernhard Weiland
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Mutter Boden
Als ich einen Tag später auf dem Baumkronenpfad in die Höhen der Baumwipfel steige, brechen die Knospen der Bäume schon in zartgrünen Farbtönen auf. Die hier vereinzelt hoch aufragenden Wildkirschen stehen in prächtiger Blüte. Vom Aussichtsturm lasse ich den Blick weit über das Thüringer Becken schweifen. Auf der südöstlichen Seite hin zum Höhenzug der Hainleite, die ich bei Sondershausen überquerte. Auf der südlichen Seite hinüber zum Thüringer Wald, den ich die nächsten Tage noch durchqueren werde. Der Blick ist ein wenig getrübt. Das Wetter schlägt um. Die sommerlichwarmen Tage wurden gestern Abend mit einem heftigen Gewitter vorerst für beendet erklärt.
Die Temperaturen am nächsten Morgen lassen mich erstmal wieder frösteln. Das ist die Gelegenheit für einen Besuch der modern und anregend gestalteten Ausstellungsräume des Nationalparkzentrums. Ich nehme mir einen ganzen Vormittag Zeit, um mich dort in aller Ruhe und ausgiebig mit Informationen über das unglaubliche Universum des Entstehens, des Werdens und Vergehens in der Erdkrume, den darauf siedelnden Bäumen und wiederum in beiden siedelnden Lebewesen zu beschäftigen. Von letzteren leben in einem Kubikmeter Erde mehr als es Menschen auf der Welt gibt. Höchst erstaunlich. Und dieser belebte Mutterboden braucht zehntausend Jahre, um eine fruchtbare Höhe von dreißig Zentimetern zu erreichen. Unglaublich. Die auf ihm siedelnden Bäume kommunizieren miteinander. Wie soll das gehen? Das wird just wissenschaftlich erforscht. In der Erdkrume wiederum kooperieren die Bäume mit verschiedenen Organismen zum gegenseitigen Vorteil. Diese und viele andere ansprechend aufgemachte Informationen machen mich sehr nachdenklich. Für Kinder gibt es besonders hergerichtete und spannend ausgestattete Erlebnisräume. Leider funktionieren viele Lehr- und Lernspiele nicht mehr. Oder noch nicht? Schade. Offensichtlich funktioniert hier das Management nicht so recht. So oder so, es lohnt sich, in diese Welt der Natur und ihre Erklärung einzutauchen. Für mich als Städter allemal.
Kuckuck - Vogelschluck
Die Zahl der Vögel in Deutschland und Europa gehe dramatisch zurück, meldet dpa. Man hört es nicht. Ich höre es nicht. Zumindest nicht im Hainich. Da geht es die Vogelsprachen rauf und runter, tirili, tirila, kekkerkekker, tüdelütt, piep und schnääp, kuckkuck.
Es seien vor allem die Vögel der Agrarlandschaften, die mehr und mehr schwänden. Dort seien die Brutpaare, so verlautbart die Bundesregierung, um 300 Millionen zurückgegangen. In Zahlen: 300 000 000! Seit 1980 ein Minus von mehr als die Hälfte. Braunkehlchen, Uferschnepfen, Feldlerchen, Rebhühner und wie sie alle heißen. Sie leiden durchweg unter Futtermangel und fehlendem Wohnraum. Die Nahrungskette stimmt nicht mehr. Es gibt immer weniger Insekten infolge des Einsatzes von Pestiziden und der Schaffung von Monokulturen in der Landwirtschaft. Tirili, tirila, und wir merken es nicht mal. Weil wir es nicht hören. Sehen schon gar nicht. Kuckuck - Vogelschluck.
Hunger
Nach Wissensinput im Nationalparkzentrum und viel frischer Waldluft des Hainich probiere ich gleich hier vor Ort thüringisches Essen. Heftig angepriesen als ‚wwwbestebratwurstde‘ oder in Rezepten einer Art Kochbibel, die in meinem Zimmer ausliegt. Das Buch wird verlegt von der Fleisch- und Wurstwarenfabrik, die Restaurant und Biergarten Thiemsburg betreibt. Die von mir gekosteten regionalen Produkte scheitern kläglich vor meinem Gaumen. Die beste Bratwurst kommt verschrumpelt daher. Hatte wohl schon den ganzen Tag am Grill gelegen. Das Rostbrätel im Restaurant ist zäh wie Leder, die beiliegenden Röstzwiebeln schwarz wie die Nacht, die Bratkartoffeln halbroher Natur. Das geht gar nicht. Schon deshalb nicht, weil das Kochbuch der Fleischfabrik mit heftiger Polemik gegen gesunde Mittelmeerküche eröffnet wird und mit geradezu missionarischem Eifer die thüringische Küche lobpreist. Also, thüringisch heißt: deftig, stark fleischhaltig und möglichst Schwein. Darf sein, darf alles sein. Aber dann fein und lecker gekocht. Das Hausbier war um Längen besser. Aber das kam ja nicht aus der Fleischfabrik. Der Fertig-Kartoffelbrei allerdings auch nicht.
Abreise
Die Unklarheiten, wie ich denn nun von hier aus weiterkäme, konnte ich beseitigen. Am Parkplatz gibt es einen Bushalt. Und da die Saison gerade begonnen hat, fährt täglich auch der sogenannte Wanderbus nach Eisenach wieder. Obwohl ich frühzeitig an der Haltestelle bin, verpasse ich beinahe den Bus. Und das kommt so. Ich hatte von Kundigen den Tipp bekommen, nicht an der bezeichneten Haltestelle hinter der Schranke des Parkplatzes zu warten, sondern direkt an der Straße. Die Fahrer würden sich manchmal den Weg durch die Schranke und das Wenden auf dem Parkplatz sparen. So ist es auch mit dem kleinen grünen Wanderbus, der eine halbe Stunde vorher in die andere Richtung, nach Bad Langensalza, vorbeikommt. Der Bus, den ich nehmen muss, ist entpuppt sich als normaler Reisebus, für mich als der Wanderbus nach Eisenach also nicht erkennbar. Er kommt pünktlich. Ich stehe an der Straße. Er fährt an mir vorbei auf den Parkplatz, passiert die Haltestelle und wendet. Fährt umgehend wieder auf die Ausfahrtsschranke zu. Dort muss er kurz anhalten. So erwische ich ihn noch. Schwein gehabt.
Der Busfahrer
Der Fahrer, ich nenne ihn einfach mal B., lässt mit sich reden. Er ist Berufskraftfahrer, der vorher für eine Spedition in der ganzen Republik unterwegs war. Transportiert wurde Mehl für Bäckereien. Das unstete Leben war er irgendwann über und sattelte um auf Busfahrer. Er heuerte bei einer privaten Busunternehmung in der Gegend an und fährt heute im Linienverkehr im Auftrag der VGW (Verkehrsgesellschaft Wartburgkreis). Das habe den unschätzbaren Vorteil, jeden Abend im eigenen Bett schlafen zu können. Mit vier Jahren Betriebszugehörigkeit sei er schon der dienstälteste Mitarbeiter, was er nicht wirklich versteht. B. meint, die anderen würden nur darauf schauen: er reibt mit dem Daumen über den Zeigefinger - Geld. Die sähen nicht die Vorteile, zum Beispiel für den eigenen PKW die Betriebswerkstatt nutzen und dort auch für den Einkaufspreis tanken zu können. Er sei sehr zufrieden. Auf unserer Fahrt über die Dörfer grüßt er immer wieder Menschen rechts und links der Straße. Einmal wartet schon eine alte Frau in ihrem Haus, entspannt auf das Fensterbrett gelehnt, auf seine Vorbeifahrt und winkt. Das sei hier normal, die Leute kennen ihn eben. Im Sommer kann es sogar vorkommen, dass er eine Stiege frisch geernteten Gartengemüses reingereicht bekäme.
Es entbrennt ein Gespräch über die Probleme der unterschiedlichen Tarifzonen und -gebiete, die er durchfährt. Benachbart auf seiner Route sind das wohl der VMT Verkehrsverbund Mittelthüringen und die Regionalbus Gesellschaft Unstrut-Hainich und Kyffhäuserkreis. Da muss er zum Beispiel zwei unterschiedliche Kindertarife berechnen. Je nachdem, wo man einsteigt, haben Kinder bis 15 Jahren oder nur bis 7 Jahren freie Fahrt. In der einen Zone fahren Studenten kostenfrei, in der anderen wird von ihnen ein ermäßigter Fahrpreis erhoben. In einer werden die Fahrpreise geändert, während sie in jener noch einige Zeit die gleichen bleiben. Wir diskutieren Bestrebungen des Bundes nach Vereinheitlichung der unterschiedlichen Systeme. Als politische Laien kommen wir schnell überein, dass zentrale Lösungen in diesem vorhandenen Wirrwarr scheitern müssen. Das könne nur lokal durch Entwicklung von innen nach außen zwischen benachbarten Tarifgebieten geschehen. Aber wer kann so eine Entwicklung anstoßen? Sei es wie es sei, die vorhandene nahverkehrliche Kleinstaaterei sei eindeutig unzeitgemäß.
Strecke