ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith
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Über Foren, Vereine oder Selbsthilfegruppen sind Patienten oft besser über aktuelle genetische oder metabolische (stoffwechselbezogene) ME/CFS-relevante Forschungsergebnisse informiert als die klassischen Haus- und Fachärzte. So kann es geschehen, dass Patienten sich untereinander z.B. über Mitochondrien-Medizin unterhalten, während Behandler weder im Studium noch in Fortbildungen über die Bedeutung dieser „Schaltstelle des Stoffwechsels“ ausreichend informiert wurden. Diese „Verkehrte Welt“ Situation ist einer der Gründe, warum dieses Buch zwei Zielgruppen hat. Und das ist auch einer der Gründe, warum dieses Buch nicht von einer medizinischen Koryphäe mit Doktortitel geschrieben wurde, sondern von einer ehemaligen Lehrerin, die selbst multisystemisch erkrankt ist.
Patientenbeteiligung
Im klinischen Alltag bilden Behandlungsansätze, die auf einer umfassenden Einbeziehung der Patienten basieren, (fachsprachlich: „Patienten-Empowerment“ und „Shared-Decision-Konzepte“) noch die Ausnahme. Je mehr Patienten über ihre eigene Erkrankung wissen, desto besser können sie ihre Gesundheitssituation beurteilen. Wissen macht Patienten (wieder) handlungsfähig. Durch das Wissen um medizinische Zusammenhänge können Patienten angebotene Untersuchungs- und Behandlungsoptionen besser nachvollziehen, bzw. einfordern oder auch ablehnen. Wissen ermöglicht, bei medizinischen Entscheidungen mitzuwirken. Das führt zu einer verbesserten Kooperation („Compliance“/Therapietreue) zwischen Behandler und Patient.
Patientenkompetenz ist auch eine Frage der Ökonomie: je besser Patienten Bescheid wissen über das komplizierte Krankheitsgeschehen, desto gezielter und damit auch ökonomischer können sie, in Kooperation mit dem Behandler, handeln. Das ist wichtig, weil die meisten der ME/CFS-spezifischen Untersuchungen nicht zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) gehören und daher von den Patienten selbst bezahlt werden müssen.
Und nicht zuletzt: Je mehr Informationen Patienten, Angehörige, Interessierte und Behandler über ME/CFS erhalten, desto relevanter können sie sich im gesundheitspolitischen Diskurs für bessere Rahmenbedingungen einsetzen. Dass die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen für die Diagnostik und Behandlung derzeit völlig unzureichend bis diskriminierend sind, wird mehrfach Thema dieses Buches sein.
ME/CFS erkennen und verstehen
Dieser Sonderausgabe liegen umfangreiche Recherchen zugrunde, sie informiert über allgemeine Grundlagen und spezifisches Wissen, bzw. Nichtwissen zu Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronic fatigue Syndrome (ME/CFS). Eine solche Arbeit kann trotz aller Sorgfalt bei einem so vielschichtigen Krankheitsbild nie allen Aspekten gerecht werden. ME/CFS ist eine der komplexesten Multisystem-Erkrankungen.
In medizinischen Büchern, die diesem vergleichbar sind, werden üblicherweise Symptome, Diagnostik und Therapie-Optionen verschiedener Erkrankungen geschildert. Da Diagnostik und Therapie des Krankheitsbildes ME/CFS jedoch kontrovers diskutiert werden und umstritten sind, war es unverzichtbar, den üblichen Rahmen zu erweitern und medizinische, soziale, wirtschaftliche und ethische Missstände zu schildern, die auf diesem medizinischen Richtungsstreit basieren. Um den katastrophalen Status quo zu ändern und eine verbesserte Versorgung zu erreichen, mussten komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge fachlich qualifiziert und nachprüfbar (z.B. durch Verweise auf Studien) geschildert werden. Das ist nicht immer leserfreundlich (obwohl ich mich sehr um Verständlichkeit bemüht habe) – aber notwendig. Nur Fakten können überzeugen.
Die Ausführungen zum Krankheitsbild ME/CFS basieren auf dem Konzept der „Systemischen Epimedizin“. Dieser Begriff wird neu eingeführt und umfasst mehrere Wissenschaftsdisziplinen: Genetik und Epigenetik, Mitochondrien-Medizin, Psycho-Neuro-Endokrino-Immunologie und Umweltmedizin. Die Systemische Epimedizin steht in Diagnostik und Therapie nicht zwingend in Übereinstimmung mit den Methoden der etablierten Medizin. Sie steht jedoch im Einklang mit aktuellen internationalen Studien, die in renommierten Wissenschaftspublikationen veröffentlicht wurden. Die englischsprachige medizinische META-Datenbank PubMed veröffentlicht die biomedizinischen Artikel der Nationalen Medizinischen Bibliothek der Vereinigten Staaten (National Library of Medicine, NLM). Diese Studien sind unter der Internetadresse www.ncbi.nlm.nih.gov/ pubmed leicht einsehbar und kostenfrei zugänglich.
Aufbruchstimmung
Derzeit gibt es weder eine labortechnisch nachweisbare Ursache noch eine angemessene Versorgung für ME/CFS. Grund genug, dieser Erkrankung einen Sonderband zu widmen, zumal nach jahrzehntelangem nur zähem Vorankommen in der ME/CFS-relevanten Forschung aktuell eine Aufbruchstimmung wahrzunehmen ist. Die Studien und Entwicklungen, die zu dieser Aufbruchstimmung führen, werden in Kapitel 4 dargestellt. Über viele Jahrzehnte wurde versucht, diese Erkrankung zu ignorieren und zu diskreditieren.
Es scheint, als trage der verzweifelte, internationale Kampf der Betroffenen und ihrer Unterstützer um Anerkennung und Aufklärung endlich Früchte.
Spitzenforscher nutzen derzeit die innovativsten Technologien der Molekularbiologie. Drei Nobelpreisträger sind mit ihrer Expertise im wissenschaftlichen Beirat des auf ME/CFS spezialisierten amerikanischen Forschungs-Institutes, der Open Medicine Foundation, vertreten. International werden vielschichtige strukturelle und funktionelle Auffälligkeiten in den Genen, in Proteinen, im Immun- und Nervensystem, im Mikrobiom und in den Mitochondrien nachgewiesen.
Über viele Jahre gab es in Deutschland heftige Auseinandersetzungen um die sogenannte Leitlinie Müdigkeit, in der die Empfehlungen der Fachgesellschaften zur Diagnostik und Therapie von ME/CFS dargestellt wurden. Bestimmte Empfehlungen wurden als potentiell schädigend von Betroffenen, Angehörigen, Patienten-Organisatoren, Behandlern und Wissenschaftlern scharf kritisiert.
In der revidierten, nun gültigen Fassung der Leitlinie Müdigkeit, die im Mai 2018 veröffentlicht wurde, nahmen die Autoren nun Abstand davon, dass diese Leitlinie als Grundlage für die Diagnostik und Behandlung von ME/CFS zu verwenden sei. Das bedeutet einen Meilenstein auf dem langen Weg zu einer angemessenen Behandlung.
Als Autorin wünsche ich meinem Buch viele Leser, das ist nicht ungewöhnlich. Aber ich wünsche mir auch, dass es bald neu geschrieben werden muss: Der aktuelle wissenschaftliche Forschungsstand ist per Definition immer ein vorläufiger. Sicher werden wir bald mehr wissen über die Ursache(n) und über ME/CFS-spezifische Biomarker. Zu wünschen wäre auch, dass die Kapitel über die katastrophalen Lebensumstände neu geschrieben werden müssen, weil die Gesundheitspolitik ME/CFS-Patienten endlich ernst nimmt und eine bessere medizinische und soziale Versorgung gewährleistet.
Die zahlreichen Ehrenamtler, die in der ME/CFS-Selbsthilfe, in Patienten-Organisationen, im Bundesverband Fatigatio e.V. oder in anderen Zusammenhängen aktiv sind, sind meist selbst an ME/CFS erkrankt. Sie haben viel Wissen, viel Erfahrung, viele gute Ideen – ber zu wenig Kraft. Ehrenamtler, Behandler, Angehörige und Freunde gehen Tag für Tag an ihre Grenzen und über ihre Grenzen, um Betroffenen zu helfen. † Kurz vor der Drucklegung dieses Buches wurde bekannt, dass Frau Edelgard Klasing, die Vorsitzende des Bundesverbandes Fatigatio e.V. am 1. Juli 2018 völlig unerwartet verstarb. †
ME/CFS braucht Fürsprecher, Botschafter, Unterstützer und Multiplikatoren
Um Veränderungen zu erreichen, muss weiter intensiv geforscht werden. Aber diese Erkrankung braucht darüber hinaus auch Menschen, die als Fürsprecher, Botschafter, Unterstützer und Multiplikatoren für eine bessere medizinische und soziale Versorgung eintreten. Wenn dieses Buch zu solchem Engagement ermutigen könnte, hätte sich die Veröffentlichung schon aus diesem Grund gelohnt.
Multisystem-Erkrankungen