ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith

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ME/CFS erkennen und verstehen - Sibylle Reith Multisystemische Erkrankungen - die medizinische Herausforderung  unserer Zeit

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Serviceteil mit weiterführenden Informationen.

      I EIN RÄTSELHAFTES KRANKHEITSBILD

      Nicht nur die Vielzahl der Bezeichnungen für dieses Krankheitsbild ist verwirrend. Bei der ersten Begegnung mit dem Krankheitsbild werden Betroffene und Interessierte mit weiteren Unklarheiten konfrontiert:

      ■ Es gibt mehrere Tausend ME/CFS-relevante internationale Studien. Dennoch ist die Ursache für das Auftreten von ME/CFS bis heute ungeklärt.

      ■ Es gibt keinen Laborwert, der Ihnen eindeutig sagt, ob Sie diese Erkrankung haben oder nicht.

      ■ Da es kein verbindliches, durch Laborwerte begründetes Erklärungsmodell für ME/CFS gibt, wurden in den letzten Jahrzehnten mehrere Versionen unterschiedlicher Konsenskriterien und Definitionen erstellt, die die Krankheit charakterisieren, um sie von anderen, ähnlichen Erkrankungen zu unterscheiden. Die jeweils gefundenen Patientengruppen erhalten die Diagnose ME/CFS uneinheitlich je nach den angewendeten Kriterien.

      ■ Da auch für Studien diese unterschiedlichen Klassifikationen zugrunde gelegt werden, die ME/CFS jeweils anders definieren, sind Forschungsergebnisse nicht in jedem Fall vergleichbar und können zu widersprüchlichen Aussagen über Diagnostik und Therapie führen.

      ■ Es gibt nur ein einziges Symptom, das spezifisch nur bei ME/CFS auftritt: Die „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion/PENE“ (Deutsch: „Neuroimmune Entkräftung nach Belastung“). PENE verweist auf neuroimmunologische Beschwerden nach jedweden, auch geringfügigen Anstrengungen, und tritt in dieser Form bei keiner anderen Erkrankung auf. Die Patienten erleben ein krasses Missverhältnis zwischen einfachsten körperlichen oder kognitiven Anstrengungen und der darauf folgenden unangemessen starken generalisierten und langanhaltenden Zustandsverschlechterung.

      ■ Jeder Betroffene leidet nicht nur unter PENE, sondern unter einer Fülle weiterer Beschwerden, deren Aufzählung mehr als diese Buchseite füllen würde. Es handelt sich größtenteils um unspezifische Symptome, die sich keinem Organ und keiner Fachrichtung zuordnen lassen: z.B. Kraftlosigkeit oder Benommenheit. Diese Beschwerden sind nicht ME/CFS-spezifisch, sondern treten auch bei sehr vielen anderen chronischen Erkrankungen auf.

      ■ Dabei zeigt jeder ME/CFS-Patient ein individuelles Beschwerdebild. Während Frau Schmidt vor allem unter wiederkehrenden Infekten und grippeähnlichen Zuständen leidet, klagt Herr Maier vor allem über seine Schmerzen und Frau Schulze über die energieraubende Schlaflosigkeit. Frau Müller kann gar nicht sagen, was ihr am meisten zusetzt, bei ihr treten mehrere Symptome stark auf.

      ■ Auch Schwere und Ausprägung der Krankheit sind extrem heterogen: Frau Schulze kann noch arbeiten, Herr Maier hat kaum mehr die Kraft, das Haus zu verlassen und Frau Müller ist vollumfänglich pflegebedürftig. Man sieht ME/CFS-Patienten ihre schwere Erkrankung meist nicht an.

      ■ Es gibt zahlreiche Überschneidungen mit anderen (multisystemischen) Erkrankungen.

      ■ Komorbiditäten (Begleit-Erkrankungen)/ Multimorbiditäten (Mehrfach-Erkrankungen): ME/CFS tritt regelhaft im Verbund mit weiteren Erkrankungen auf. Manchmal ist unklar, welche der Erkrankungen die Grunderkrankung darstellt.

      ■ ME/CFS-Patienten werden derzeit weder medizinisch noch sozial angemessen versorgt.

      ■ Es gibt aufgrund mangelnder Forschung und uneinheitlicher Diagnostik keine verlässliche Statistik zur Häufigkeit. Schätzungen gehen (seit Jahren!) von ca. 320 000 Betroffenen in Deutschland aus. Das entspricht etwa der Gesamtbevölkerung Islands. Es ist jedoch völlig unklar, wie verbreitet ME/CFS in der Bevölkerung tatsächlich ist.

      ■ Sehr wenige Studien gibt es z.B. über Risiken für Folge-Erkrankungen oder über die gesellschaftlichen und sozioökonomischen Auswirkungen von ME/CFS.

      ■ Bislang wurden, vor allem aufgrund des hohen Aufwands, nur wenige Studien zu schwer- und schwerstbetroffenen Patienten durchgeführt.

      Kaum vermittelbare Komplexität

      Die Liste ließe sich zwanglos durch weitere Puzzleteile fortsetzen, aber vermutlich ist schon jetzt klargeworden, dass dieses Krankheitsbild so komplex ist wie kaum ein anderes und sich kaum dingfest machen lässt. Um dieser Fülle an Unklarheiten und Verwirrungen Herr zu werden, helfen zwei Fragen:

       Was wissen wir?

       Was wissen wir nicht?

      ME/CFS erkennen und verstehen ist der Versuch, diesen beiden Fragen nachzugehen.

      II KONTROVERSEN UND HYPOTHESEN

      Wo Beweise fehlen, bleibt Raum für gegensätzliche Interpretationen. Verfechter verschiedener Ansätze streiten sich bis heute. Das zeigt sich u.a. sehr deutlich in der Kontroverse um die sogenannte PACE-Studie, die in Kapitel 2.1 dargestellt wird.

      In the mind or in the brain?

      ■ Psychologisch/psychiatrisch ausgerichtete Fachgesellschaften gehen von der Hypothese aus, dass die ME/CFS-typischen Beschwerden durch falsche Krankheits-Überzeugungen entstehen, die mit Hilfe von kognitiver Verhaltenstherapie behandelt werden könnten. Die unbekannte Ursache und die fehlenden Biomarker legen in dieser Lesart die Annahme einer psychischen Verursachung nahe. ME/CFS ist in der weltweit gültigen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheits-Organisation (WHO) jedoch eindeutig als neurologische, nicht als psychogene oder psychiatrische Erkrankung gelistet (ICD-G 93.3).

      ■ Die biomedizinisch orientierte Ärzteschaft versteht ME/CFS derzeit als Sammeldiagnose. Aktuell werden Biomarker erforscht, die eine Klassifizierung der ME/CFS-Patienten in Untergruppen erlauben. Dabei spielen z.B. immunologische, infektionsoder stoffwechselbezogene, neurologische sowie (epi-)genetische Faktoren eine Rolle.

      Grundlagenforschung und klinischer Alltag

      An den Universitäten erfahren zukünftige Ärzte kaum etwas über molekularbiologische Stoffwechselprozesse, die für das Verständnis der ME/CFS entscheidend sind. Diese werden weder in der ärztlichen universitären Ausbildung als praxisrelevantes Wissen vermittelt, noch sind sie im Ärzte- oder Klinikalltag bekannt. Auch in der medizinischen Fachliteratur werden die komplexen biochemischen Vorgänge kaum praxisrelevant beschrieben.

      Erschwert wird die Situation auch dadurch, dass unser Medizinsystem nach Fachdisziplinen gegliedert ist - für „Ganzkörper-Erkrankungen“ wie ME/CFS, die sich keinem Organ und keiner einzelnen Fachrichtung zuordnen lassen, gibt es keine Ansprechpartner. Keine Fachgesellschaft ist zuständig.

      Abb. II/1 Rätsel ME/CFS

      Zwei Faktoren bewirken, dass ME/CFS seit Jahrzehnten kontrovers interpretiert wird: Bislang konnte noch keine Ursache für das Entstehen (Ätiologie) von ME/CFS gefunden werden. Es gibt keinen Biomarker/Laborwert, der ME/CFS-spezifisch wäre und damit eindeutig belegen würde, ob ein Patient an ME/CFS erkrankt ist oder nicht.

      Die Grundlagenforschung zu ME/CFS wurde bisher kaum wahrgenommen und die Überführung (Translation) aktueller Forschungsergebnisse in den klinischen Alltag findet nicht statt. Diese Überführung ME/CFS-relevanter Forschungsergebnisse in den Praxisalltag wird Jahre bis Jahrzehnte dauern. ME/CFS-Patienten und Behandler können jedoch nicht Jahre und Jahrzehnte warten.

      Aufbruch! Und ein Artikel in der „Nature“

      Nach

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