ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith
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■ Bei nationalen und internationalen Patienten-Organisationen und in Publikationen werden beide Begriffe verwendet.
Da dieses Buch den Fokus auf die derzeitig höchst unbefriedigende medizinische und soziale Versorgung richtet, scheint es mir derzeit gerechtfertigt, beide Abkürzungen zu verwenden. Es ist zu hoffen, dass für zukünftige Studien die ME-ICC 2011 zugrunde gelegt werden. Dann können Aussagen getroffen werden, die ausschließlich Patienten betreffen, die diese eng gefassten Kriterien erfüllen. Auch für „CFS“ wird es dann sehr wahrscheinlich Subgruppen mit unterschiedlichen Biomarkern geben. Mehrere Studien konnten potentielle Biomarker für ME und für CFS zeigen, die absehbar in naher Zukunft verwendet werden können.
In den folgenden Kapiteln werden viele Studien beschrieben. Da in diesem Buch auf sehr viele Studien Bezug genommen wird, ist nicht durchgehend vermerkt, ob die Probanden als CFS, ME/CFS oder als ME-Patienten bezeichnet wurden. Die Details der Studien können Sie jedoch anhand der Quellenangaben erfahren.
Individualisierte Diagnostik
Erkenntnisse und Erfahrungswerte zu multisystemischen Erkrankungen nehmen ständig zu. Diese Erkenntnisse sind eng mit der rasanten Entwicklung der Zellbiologie und der Molekularbiologie verknüpft, die durch neue Techniken zu einer explosiven Vermehrung von Wissen über Zellaktivitäten geführt hat. Jeder einzelne Patient kann schon heute auf seine individuelle Biosignatur untersucht werden - das wäre vor 10 Jahren noch undenkbar gewesen.
Diese Erkenntnisse revolutionieren derzeit auch schon unser Diagnose-System. Denn wo bisher nach unterschiedlichen Diagnosen mit unterschiedlichen Therapien behandelt wird, wird zukünftig möglicherweise diagnoseübergreifend nach biologisch basierten Merkmalen behandelt. Ein multisystemisch erkrankter Mensch wird dann z.B. folgende Untersuchungen durchlaufen:
■ Immunologische Merkmale/Infektion/ Entzündung
▸ Siehe Kapitel 4.3; Kapitel 4.5
■ Merkmale des Stoffwechsels, Stoffwechselstörungen
▸ Siehe Kapitel 4.8; Kapitel 4.6.1
■ Genetische/epigenetische Merkmale, z.B. genetische Untersuchung der Entgiftungsfunktion und/oder der Stress-Antwort, weitere
▸ Siehe Kapitel 4.3 / Kapitel 4.9.1
■ Darmgesundheit/Mikrobiom
▸ Siehe Kapitel 4.11
■ Diagnostik des Energiestoffwechsels/ Mitochondrien-Gesundheit
▸ Siehe Kapitel 4.8
■ Diagnostik des Nervensystems
▸ Siehe Kapitel 4.10
Die Therapie richtet sich dann nicht nach einer Diagnose (z.B. ME oder CFS oder anderen), sondern nach den tatsächlich vorgefundenen objektivierbaren Merkmalen.
In dem in der Einleitung erwähnten Band 2 MULTISYSTEM-ERKRANKUNGEN erkennen und verstehen werden unterschiedliche Krankheitsbilder beschrieben und verglichen, die mit multisystemischen Fehlregulationen einhergehen. Dabei zeigt sich, dass wir es kaum mehr mit abgrenzbaren, eindeutigen Krankheitsausprägungen zu tun haben, sondern mit komplexen Krankheitsbildern, die miteinander verflochten sind und sich überlappen. Diese Krankheitsbilder sind unscharf, die Diagnosestellung ist oft kompliziert. Es gibt ein unüberschaubares Geflecht von Ursachen, Auslösern und verstärkenden Faktoren.
70-80 % aller Patienten haben heute „nur“ funktionelle Störungen und rund 50 % aller Untersuchungen enden ohne Befund. Das bedeutet, dass sie ohne spezifische Untersuchungen, die über den Standard hinausgehen, nicht als organische Schädigungen erklärbar sind.
Krankenkassen und Versorgungswerke, sowie deren Gutachter werden sich damit anfreunden müssen, dass die Zeiten, in denen alle Krankheiten „etikettiert“ werden konnten, vorbei sind.
Bei multisystemischen Erkrankungen werden wohl Begriffe wie „Formenkreise“ oder „Spektrum-Erkrankungen“ und eine spezifische Diagnostik Einzug halten. Je früher, desto besser.
1.3 FRAGEBOGEN ZU ME/CFS
Für ME/CFS-Patienten bedeuten Alltagstätigkeiten Gipfelbesteigungen. Schon nach scheinbar geringfügigen Anstrengungen brauchen Betroffene Stunden oder Tage zur Regeneration, Schwer- und Schwerstbetroffene oft sogar Wochen. Die meisten Patienten können nicht mehr arbeiten, viele sind pflegebedürftig und/oder bettlägerig. Die Patienten erleben ein krasses Missverhältnis zwischen einer körperlichen oder kognitiven Belastung und der anschließenden globalen Zustandsverschlechterung, die Englisch als „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion“ bezeichnet wird und sich mit PENE abkürzen lässt. ▸ Siehe Kapitel 5.1: Differenzierung Fatigue, PEM, PENE
Für Nichtbetroffene ist kaum vorstellbar, dass Schwer-Erkrankte sich nach scheinbar mässigen Anstrengungen unverhältnismäßig lange ausruhen müssen und eine generelle Zustandsverschlechterung erfahren (Schmerzen, kognitive Störungen, Schlafstörungen und viele weitere). Dazu kommen weitere chronische unspezifische, oft nicht lokalisierbare Symptome, wie sie auch bei anderen Erkrankungen auftreten.
Die Patientengruppen sind sehr heterogen. Sowohl die Einschränkungen wie auch die Stärke der Erkrankung unterscheiden sich. Manche Patienten leiden vor allem unter Muskel- und Gelenkschmerzen, andere an kognitiven Störungen, wieder andere vor allem unter der Tatsache, dass sie nicht gut schlafen können - um nur drei Beispiele zu nennen. Es gibt noch wesentlich mehr unterschiedliche Beschwerden, die sich zudem gegenseitig nicht ausschließen.
So vielfältig die Symptome und damit die Patienten sind - die überdurchschnittlich leichte Erschöpfbarkeit und die Tatsache, dass selbst ausgiebiges Ausruhen keine ausreichende Regeneration bewirkt, gehört zu den herausragenden Kriterien. Diese Beschwerden treten bei anderen, ähnlichen Erkrankungen so nicht auf.
Der folgende Fragebogen kann Ihnen helfen herauszufinden, ob Sie möglicherweise zur Patientengruppe der an ME/CFS-Erkrankten gehören. Er dient lediglich als erster Erkundungs-Schritt. Bitte beachten Sie, dass ausschließlich das Leitsymptom PENE spezifisch bei ME/CFS auftritt. Alle weiteren Beschwerden, die unter Punkt II abgefragt werden, sind unspezifisch, treten also auch bei vielen anderen Erkrankungen auf. Dieser Fragebogen ist daher nur hinweisend und nicht beweisend. Falls Sie viele (nicht zwingend alle) Fragen ankreuzen, wird eine weitere Abklärung empfohlen.
Dann sollten Sie mit einem Behandler den medizinischen Fragebogen der Internationalen ME-Konsenskriterien 2011 durchgehen (gilt für Erwachsene) oder einen der Fragebogen für Kinder, auf die in Kapitel 3.2 verwiesen wird. Jedwede Fragebögen sind jedoch immer Teil einer umfassenden Anamnese und weiterführenden Differenzialdiagnostik und nie alleine als Diagnoseinstrument ausreichend. ▸ Siehe Kapitel 5.1
Bei Schmerzen im ganzen Körper sollte auf das Fibromyalgie-Syndrom/FMS untersucht werden. Bei starker Überempfindlichkeit gegen Chemikalien sollte das verwandte Krankheitsbild Multiple Chemikalien-Sensitivität/ MCS abgeklärt werden.
Bin ich ME/CFS-Patient(in)?
Das Leitsymptom „Neuroimmunologischer Entkräftung nach Belastung“ / „Post-Exertional Neuroimmune Exhaustion / PENE“
□ Für jedwede Tätigkeit, auch für scheinbar minimale, muss ich mich anstrengen.
□ Nach kognitiven oder körperlichen Anstrengungen