ME/CFS erkennen und verstehen. Sibylle Reith
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„Multisystem-Erkrankungen erkennen und verstehen“
Multisystem-Erkrankungen sind gegenwartsbezogene, neuartige Krankheitsbilder. Sie finden sich unter diesem Begriff jedoch bislang (bis auf wenige Ausnahmen) weder in medizinischen Lehrbüchern noch in ärztlichen Leitlinien. Der Begriff wird uneinheitlich verwendet und umfasst im weiteren Sinne nahezu alle entzündlichen Zivilisations-Erkrankungen, wie z.B. Diabetes mellitus, Neurodegenerative Erkrankungen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
■ Das Chronische Erschöpfungs-Syndrom (ME/CFS)
■ Das Fibromyalgie-Syndrom (FMS)
■ Die Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) und
■ Das Posttraumatische BelastungsSyndrom (PTBS)
gehören zu den komplexesten erworbenen Multisystem-Erkrankungen. Diese Erkrankungen folgen nicht einem geradlinigen Ursache-Wirkungs-Muster, das überschaubar und verstehbar wäre. Sie sind daher außerordentlich vielschichtig, die Symptome sind unspezifisch und erfordern Detektivarbeit. Die Palette möglicher Ursachen ist unüberschaubar, nicht nur ein Organ ist betroffen, sondern der ganze Organismus. Jede Erkrankung ist dabei individuell wie ein Fingerabdruck, selbst Patienten mit dem gleichen Syndrom unterscheiden sich untereinander sehr. Unser medizinisches System ist nach Fachdisziplinen unterteilt. Komplexe Multisystem-Erkrankungen lassen sich jedoch nicht einer einzigen Fachdisziplin zuordnen. Interdisziplinäre Kooperation steckt in Deutschland bislang noch in den Kinderschuhen. Sie ist eher die Ausnahme als die Regel.
Hilfe gäbe es aus der Forschung: hier explodiert das Wissen über biochemische, epigenetische und genetische Zusammenhänge, die das systemische Geschehen verstehbar machen. Diese Grundlagenforschung erreicht die Arztpraxen jedoch nur mit zeitlicher Verzögerung oder auch gar nicht. Es vergehen in diesem schwerfälligen Prozess Jahre, bis wichtige Erkenntnisse den Weg in die ärztlichen Leitlinien finden. Der verzögerte Wissenstransfer führt zu einer immensen Kluft zwischen Forschung und ärztlicher Praxis. Immer mehr multisystemisch erkrankte Patienten stellen sich daher die Frage, ob ihre Behandlung auf die Empfehlungen der etablierten Medizin beschränkt bleiben sollte. Nicht wenige Ärzte geben ihre Zulassung ab und arbeiten als Privatärzte, um eine umfassendere Diagnostik und Therapie anbieten zu können, die auf präzisen molekularbiologischen Technologien beruhen. Diese innovativen Untersuchungen sind verfügbar, derzeit gehören sie jedoch nicht zu den Leistungen, die durch die Krankenkassen regelhaft übernommen werden. Vielen Ärzten sind sie gar nicht bekannt.
Als erworbene, stress- und umweltbedingte Erkrankungen haben Multisystem-Erkrankungen auch eine politische und gesamtgesellschaftliche Dimension. Der Bogen der dargestellten Themen in MULTISYSTEM-ER-KRANKUNGEN erkennen und verstehen ist weit gespannt und umfasst die oben erwähnten Wissenschaftsdisziplinen der Systemischen Epimedizin, sowie die Stressforschung und die Zellbiologie (Zellstress, Zellkommunikation).
Beide Bücher sind so konzipiert, dass die Kapitel jeweils unabhängig voneinander gelesen werden können. Eine starke Untergliederung und die Heraushebung von wichtigen Aussagen sollen eine schnelle Übersicht ermöglichen. Das erlaubt, je nach Interessen lage Schwerpunkte zu setzen und sich z.B. den biochemischen Details mit unterschiedlicher Intensität zu widmen.
Ein Wort zur Gestaltung des vorliegenden Buches
Die blaue Schleife („Blue Ribbon“) steht seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten als internationales Zeichen der Solidarität und der Unterstützung für die ignorierte Krankheit ME/CFS und als Aufruf zur Wahrnehmung der Betroffenen sowie für die Forderung nach mehr Forschung. Am 12. Mai 1820 wurde Florence Nightingale geboren, die, so wird vermutet, an ME/CFS litt und als Pionierin und Kämpferin für moderne Krankenpflege bekannt wurde. Ihr zu Ehren wird am 12. Mai jedes Jahres der internationale ME/CFS-Tag gefeiert, an dem die blaue Schleife weltweit bei Veranstaltungen in vielerlei Ausprägungen präsent ist.
Seit 2013 leuchten unter dem Motto „LIGHT UP THE NIGHT FOR ME“ am Abend des Gedenktages in beeindruckender Weise bedeutende Bauten und Naturdenkmäler in strahlendem Blau. Besonders beeindruckend erscheinen die Niagara-Fälle, die Sie stellvertretend ebenfalls auf dem Cover finden. Die Lost Voices Stiftung stellte einige weitere internationale Aufnahmen auf ihre Webseite: www.lost-voices-stiftung.org/was-ist-me/ 12-mai-gedenktag
Die Farbgestaltung innerhalb des Buches war insofern begrenzt, als beim Self-Publishing farbig bedruckte Seiten den Verkaufspreis erhöhen. Da viele ME/CFS-Patienten nicht arbeiten können und daher kaum Einkommen haben, haben wir versucht, mit reduzierten Mitteln bestmögliche Lösungen zu finden.
Nota Bene: Anmerkung zu den Unzulänglichkeiten der deutschen Sprache
„Manche(r) Erschöpfte durchleidet eine jahrelange Odyssee, bis die Ursache ihrer/seiner Kraftlosigkeit erkannt wird.“
Der Beispielsatz zeigt, dass die deutsche Sprache es uns nicht leicht macht, dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht gerecht zu werden. Bei ME/CFS beträgt der Frauenanteil ca. 75 %. Daher ist es nur der Lesbarkeit und einer einfacheren, einheitlichen Formulierung geschuldet, dass in beiden Büchern keine gendergerechte Sprache verwendet wird. Weder das Gender-Sternchen (Patient*in), noch das Binnen-I (PatientIn), noch das Gender-Gap (Patient_in) schienen mir geeignet, diese paradoxe Situation gut zu lösen. Diese nicht gendergerechte Schreibweise ist unbefriedigend. Sie ist aber meines Erachtens die bessere Lösung, um die überaus komplexen ME/CFS-relevanten Zusammenhänge nicht noch weiter zu verkomplizieren.
EINFÜHRUNG
„Im Lexikon der englischen Sprache findet sich kein Wort, mit dem man die fehlende Ausdauer, den Mangel an Energie, das absolut überwältigende Krankheitsgefühl und das Elend beschreiben könnte, von dem diese Krankheit begleitet ist.“
Charles Lapp, einer der führenden Forscher und Kliniker mit 25 Jahren Erfahrung auf dem Gebiet des ME/CFS, Gründer des Hunter-Hopkins Center in North Carolina, USA.
Dieses Buch widmet sich einer Erkrankung, für die es leider verwirrend viele Bezeichnungen und Abkürzungen gibt. Ich verwende als Sammelbegriff für dieses Krankheitsbild die heute weltweit gebräuchlichste Abkürzung ME/CFS, die für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome steht. ▸ Siehe dazu auch Kapitel 1.3.1
■ Kapitel 1: In diesem Kapitel wird das Krankheitsbild ME/CFS differenziert vorgestellt und charakterisiert. Hier erfahren Sie u.a. auch mehr zu den verschiedenen Bezeichnungen und Abkürzungen.
■ Kapitel 2 beschreibt eine umstrittene englische Studie und ihre Auswirkungen. Die sogenannte PACE-Studie hat das Bild von ME/CFS in der Öffentlichkeit geprägt und lag bis Mai 2018 den ärztlichen Leitlinien in Deutschland zugrunde. Die Studie weist jedoch so gravierende methodische Mängel auf, dass ihre Evidenz international von Wissenschaftlern, Behandlern und Patienten in Frage gestellt wird. (Der medizinische Begriff Evidenz bedeutet: der durch Studien erbrachte Nachweis des Nutzens einer diagnostischen oder therapeutischen Aktion).
■ Kapitel 3 beschreibt die katastrophale medizinische und soziale Versorgungs-Situation für ME/CFS-Patienten.
■ Kapitel 4 stellt schwerpunktmäßig die aktuelle ME/CFS-relevante Forschung vor.
■ Kapitel 5 fasst einige diagnostische und therapeutische Gesichtspunkte zusammen.
Dann folgt ein Ausblick, der zukünftige