Eisaugen. Margit Kruse

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Eisaugen - Margit Kruse

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lag zusammengerollt ein grüner Regenmantel, auch neueren Baujahrs. Beides konnte sich noch nicht lange hier oben befinden. Margareta nahm die Stiefel in die Hand und drehte sie um. Aus dem groben Profil rieselte Sand. Größe 43 stand auf den Sohlen. Der Regenmantel war ebenfalls ein Herrenmodell. Wem gehörten die Sachen? Im ersten Augenblick hatte sie gedacht, es handele sich um Sabines Reitstiefel. Vielleicht frisch besohlt. Da sie tot war, wurden sie nicht mehr gebraucht. Es waren jedoch große stinknormale Gummistiefel, die wohl kaum einer so zarten Person gehört haben konnten. Sie stellte sie wieder zurück und faltete den sperrigen Mantel genau so, wie er vorher dagelegen hatte. Weg hier. Einfach nur weg. Margareta wurde es zu unheimlich. Sie richtete sich auf. Gerade als sie sich umdrehen wollte, um den Dachboden zu verlassen, spürte sie, wie zwei starke Arme nach ihr griffen und sie von hinten packten.

      »Was tust du hier?«, hörte sie Karols wütende Stimme. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken.

      »Au, du tust mir weh, lass mich los!«

      Er ließ tatsächlich von ihr ab. Sie drehte sich um und sah in braune, traurige Augen.

      »Na, Miss Marple, auf Spurensuche?«

      »Ich wollte nur mal … Ich weiß auch nicht …« Verschämt senkte sie den Blick.

      »Meinst du vielleicht, ich habe das Mädchen ermordet und bewahre hier Sachen von ihr auf?« Er seufzte und blickte aus dem kleinen Fenster hinunter auf die Straße. »Du schläfst also mit einem Mann, den du für einen Mörder hältst? Hast du denn gar keine Menschenkenntnis?«

      »Ich halte dich nicht für einen Mörder!«

      »Ach nein? Vielleicht habe ich noch mehr Menschen umgebracht und du findest eine Leiche. Schau mal hinten im Schrank nach!« Er gab ihr einen Stoß. Sie fiel auf den Boden.

      »Aber der Mantel und die Gummistiefel! Die gehören mit Sicherheit dir! Oder?«

      »Ja, das sind meine Sachen!«

      »Wozu brauchst du sie?« Margareta stand auf und wischte sich notdürftig den Staub von ihrer Jeans.

      »Manchmal gehe ich nachts spazieren. Meistens, wenn es regnet. Da sind am wenigsten Leute unterwegs.«

      »Du gehst nachts spazieren?« Margareta lief ein kalter Schauer über den Rücken. Karol wurde ihr immer unheimlicher. Geht nachts im Regen in einer Anglermontur auf Wanderschaft. Gleichzeitig fühlte sie sich stark von ihm angezogen. Bin ich vielleicht abartig veranlagt?

      »Ja meinst du vielleicht, es ist schön, immer eingesperrt zu sein?«, zischte er sie an.

      »Wo gehst du denn hin? Mitten in der Nacht?«

      »Meistens über den Friedhof. Das ist am nächsten. Dort ist Ruhe, man ist allein!«

      »Mitten in der Nacht auf den Friedhof?« Sie bekam eine Gänsehaut. Gleichzeitig tat er ihr leid. Wie einsam und verzweifelt musste ein Mensch sein, der nachts auf den Friedhof ging?

      Sie standen sich gegenüber. Auf dem muffigen Dachboden des Turmes. Sie sahen sich an. Er lächelte und strich ihr zart über die Wange. Seine Hormone ließen den Ärger schnell verfliegen. Der Dachbodenschlüssel befand sich längst wieder in seiner Hosentasche, was Margareta bedauerte. Dann küsste er ihr Gesicht, ihre Stirn, ihre Wangen und ihre Lippen.

      »Warum machst du aus allem so ein Geheimnis?« Sie küsste ihn zärtlich auf den Mund. Obwohl sich ihre Angst vor diesem Mann nicht gänzlich aufgelöst hatte, sehnte sich jede Faser ihres Körpers nach ihm.

      Ihre Fingerspitze zeichnete die Umrisse seines Adamsapfels nach. Seine Halsschlagader trat hervor. Er seufzte vor Erregung. Mit zitternden Fingern umkreiste er ihre Brüste.

      »Zieh dich aus«, flüsterte er mit rauer Stimme.

      »Hier auf dem ollen Dachboden?«

      »Ja, jetzt und hier!« Er holte den Regenmantel aus der Ecke, breitete ihn aus, legte ihn auf den Boden und kniete sich darauf. »Los, komm schon!« Er zog sie zu sich herunter.

      Nur durch den kalten Regenmantel vom harten Dielenboden getrennt, kamen sie schnell zur Sache. Wie Ertrinkende klammerten sie sich aneinander. Ihre Hände krallten sich an seinem Hintern fest. Endlich. Leidenschaftlich biss Karol sie in den Hals. Sie spürte seine zärtlichen Hände überall gleichzeitig. Fast verrückt machte ihn ihr anfeuerndes Hecheln.

      Wie weit ist es mit mir gekommen, dachte Margareta, als sie behäbig versuchte aufzustehen und ihre Kleidungsstücke zusammensuchte. Karol lachte, als er sich mit knackenden Knochen vom Boden erhob.

      »Wir sind eben keine 20 mehr!«

      »Keiner hat uns gezwungen, es hier an diesem unheimlichen, ungemütlichen Ort zu treiben!« Margareta lächelte süffisant.

      »Wie sich das anhört: es zu treiben! Was ist mit Liebe?«

      Margareta hielt sich die Ohren zu. »Bitte nicht schon wieder dieses Thema. Du bist echt ein toller Liebhaber. Doch mehr nicht!«

      In der Nacht wurde sie vom Regen, der an das Fenster prasselte, geweckt. Sie stand auf und schloss den gekippten Fensterflügel. Drüben bei Karol war alles dunkel. Ob er wieder unterwegs war? Er liebte doch Regenwetter. Hat er sich in Stiefel und Mantel geworfen und irrte auf dem Friedhof umher? War er in besagter Nacht, als Sabine ermordet wurde, auf dem Friedhof? Hat er vielleicht etwas gesehen? Ein für sie unvorstellbarer Gedanke. Ich muss von ihm loskommen. So wichtig darf Sex schließlich nicht sein.

      Da sie nicht einschlafen konnte, ging sie in die Küche, um sich einen Tee zuzubereiten. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, setzte sie sich an den Küchentisch. Ihr Blick fiel auf den Stapel Post, den sie, als sie von der Arbeit kam, achtlos beiseitegelegt hatte, getrieben von dem Gedanken, den Dachboden zu inspizieren. Und nach der heißen Dachbodennummer hatte sie den Stapel glatt vergessen. Reklame irgendwelcher Möbelhäuser, die Telefonrechnung, eine Urlaubskarte ihrer Freundin Corinna, die an der Nordsee weilte, und ein brauner DIN-A5-Umschlag waren die Ausbeute ihres Briefkastens. Sie nahm den Umschlag in die Hand und betrachte ihn verwundert. In kindlicher Krakelschrift war ihr Name darauf geschrieben. Weder Straße noch der Ort, nur ›Margareta Sommerfeld‹ stand auf dem Umschlag. Keine Briefmarke, kein Poststempel, nichts. Es musste ihn jemand persönlich in den Kasten geworfen haben. Sie öffnete ihn neugierig und entnahm ihm drei Fotos. Kaum hatte sie einen Blick darauf geworfen, wurde ihr speiübel und sie begann zu würgen. Die Fotos zeigten drei Frauen. In einer von ihnen erkannte sie Sabine, das tote Mädchen vom Friedhof. Im Dunkeln, aus nächster Nähe fotografiert. Ein erstarrtes Gesicht mit geöffneten Augen. Margareta hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf den Küchentisch. Auf dem zweiten Foto war ebenfalls eine junge blonde Frau abgebildet, an einen Stuhl gefesselt, mit einem Knebel im Mund, und Augen, die qualvolles Entsetzen ausdrückten. Aber sie lebte. Das letzte Foto zeigte eine zarte Frau mit kurzen dunklen Haaren, nackt auf einen Tisch festgebunden. Ihr Mund war mit Paketband verklebt. Ihr Blick starrte resigniert in die Gegend. Jetzt brauche ich einen Schnaps, Pfefferminztee reicht nicht mehr, dachte Margareta. Sie ging ins Wohnzimmer, goss sich einen doppelten Weinbrand in ein Wasserglas und schüttete den Inhalt, ohne nachzudenken, in den Hals.

      Eisauge! Das war Karl-Heinz, das Eisauge, war ihr sofort klar. So abartig konnte nur er sein. Erst machte er mit den Frauen perverse Spielchen, dieser verklemmte Psychopath, und dann brachte er sie um. Er war der Mörder von Sabine! Das stand für sie zweifelsfrei fest. War Margareta vielleicht die Nächste?

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