Eisaugen. Margit Kruse
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Nun war sie fort. Bereits seit einigen Monaten. Was Friedbert seitdem anschleppte, blieb nie lange. Was er sich am Freitagabend aus irgendeiner Kneipe mitbrachte, entsorgte er oft schon samstags, spätestens jedoch am Sonntag nach dem Frühstück. Zurück blieben schmutziges Geschirr, übel riechende Bettwäsche und ein versifftes Badezimmer, um das sich Christel mit mütterlichem Tatendrang am Montag kümmerte. Wenn Friedbert von der Arbeit kam, waren alle Spuren des Wochenendspielzeugs beseitigt.
Das hätte es zu ihrer Zeit nicht gegeben. Als sie 1960 Heinz kennenlernte, herrschten andere Gesetze. Moral und Anstand wurden in der christlichen Familie, in der Christel aufwuchs, großgeschrieben. Sex ohne Trauschein? Undenkbar. Ihre Mutter zählte ihr täglich auf, was dabei alles in die Hose gehen konnte. Ungewollte Schwangerschaft, uneheliches Kind, Schande über eine ganze Familie. So beschränkte sich das Austauschen von Zärtlichkeiten in der Zeit der ersten Verliebtheit auf verstohlene Küsse im Treppenhaus und ein wenig Parkbankgefummel im Sommer. Heinz war schon ein fescher Kerl in seiner Sturm- und Drangzeit, und es fiel Christel immer schwerer, ihn abzuwehren. Ihre Bedenken wischte er lachend beiseite. »Was soll das, wir heiraten doch sowieso.« So fieberte sie der baldigen Hochzeit entgegen. Damit alles seine Ordnung hatte. Eine Wohnung wurde gesucht, Altbau, mit Kohleheizung. Nur mit Trauschein zu bekommen. Die Hochzeit wurde zu Hause gefeiert. Das volle Programm, Zimmer ausräumen, vorkochen, Polterabend.
Die Hochzeitsnacht war für Christel ernüchternd. Dachte sie noch morgens vorm Traualter, dass das süße Gefühl der Verliebtheit in der Nacht endlich seinen Höhepunkt finden würde. Geigende Engel vom Himmel, Glücksglöckchengeläut und das Gefühl zu schweben. Alles Schwindel. Was ihr von der Nacht blieb, waren Schmerzen, Muskelkater und versaute Bettwäsche. Ihr draufgängerischer, alkoholisierter Ehemann drehte sich, nachdem er bekommen hatte, was ihm laut Gesetz zustand, auf die Seite und war Sekunden später eingeschlafen. Christel hingegen weinte sich in den Schlaf.
»Es wird bald besser«, tröstete sie die Mutter am nächsten Tag, als sie gemeinsam das Chaos der Hochzeitsfeier beseitigten. »Das ist eben das Los einer Ehefrau«, war deren Ansicht. Als Christel versuchte, mit ihrem Ehemann über ihr Problem zu sprechen, wurde er wütend. »Was willst du? Hast du nicht alles?« Nein, wollte sie sagen. Ich brauche Liebe und Zärtlichkeit.
Als sechs Jahre später die Aufklärungsfilme Oswald Kolles in den Kinos liefen und Christel sich heimlich einen davon ansah, keimte Hoffnung in ihr, dass vielleicht auch Heinz einmal so ein zärtlicher, rücksichtsvoller Liebhaber werden würde. Als sie ihm gestand, solch einen Film angesehen zu haben, und ihm Einzelheiten davon berichtete, rastete er aus. »Wo bleiben da Sitte und Moral?«, wollte er wissen.
War das alles?, grübelte sie immer öfter. Belanglose Gartenzaungespräche mit den Nachbarinnen, Wohnung putzen, kochen und einkaufen, darauf warten, dass der Ernährer müde von der Schicht heimkam? Oft sehnte sie sich zurück in ihr heimeliges Büro zu ihren Kolleginnen, die anderes zu verrichten hatten als die Hausfrauen von nebenan.
Nach Friedberts Geburt wurde es besser. Das Gefühl, da sei etwas, was sie verpasste, wurde schwächer. Sie ging ganz in ihrer Mutterrolle auf.
Sie suchte sich, nachdem sie das Grab ihres Mannes verlassen hatte, einen Beobachtungsposten hinter halbhohen Sträuchern. Mindestens 200 Menschen folgten dem mit roten Rosen geschmückten, hellen Sarg Sabines. Verständlich, bei einem so jungen Menschen, der tragisch ums Leben kam. Der sichtlich betroffene Pfarrer rang am Grab um Worte, die den Angehörigen Trost spenden sollten. Die Mutter, mit offenen langen Haaren und verweintem Gesicht, und der Vater, der aussah wie ein Waldbauer, stützten einander schluchzend. Zwei Kranzwagen mit einem Meer bunter Kränze und Gebinde standen ein wenig abseits des Feldes. Die verschiedenfarbigen Schleifen flatterten leicht im Wind. Die Menschenmenge drängte sich dichter ans Geschehen. Wollte hören, was der Pfarrer zu sagen hatte. Doch das machte das Mädchen nicht wieder lebendig. Christels Nachbar Michael stand weiter hinten an einen Baum gelehnt. Erst lief ihm die Frau weg, dann erwürgte man seine Geliebte.
Kurze Zeit später, als ungefähr die Hälfte der Trauergäste am Grab Abschied genommen hatte, sah Christel Margareta und ihre Mutter zum offenen Grab schreiten. Was haben die denn da verloren?, dachte sie. Die müssen ihre Nase aber auch in alles stecken. Da es ihr hinter den Büschen zu ungemütlich wurde und sie außer den drei Personen niemanden kannte, trat sie den Heimweg an.
7.
Als Walter Hartmann auf seinem Heimweg an Sabines Grab vorbeikam, blieb er stehen, klemmte seine abgewetzte Aktentasche zwischen die Beine und faltete die Hände zum Gebet. Die Kränze, die nicht fachmännisch auf Ständer hinter dem Erdhügel drapiert waren, lagen übereinandergestapelt auf einem Haufen. Die Schleifen hatte man aus lauter Neugier an den Seiten herausgezogen, um sie besser lesen zu können. Eine Ermordete auf unserem Friedhof, dachte er. Soll sie die ewige Ruhe finden. Wer weiß, warum man sie umgebracht hat? Frauen! Pah! Erst machen sie einen scharf und dann zieren sie sich. Immer das gleiche Spiel. Er hätte Iwona am liebsten erwürgt, als sie ihn so kalt abserviert hatte. Die ist es, sagte er sich noch, als sie Kuchen essend vor dem Fernseher saßen, seine Mutter, Iwona und er. Die Sonntagnachmittage waren immer so harmonisch. Seine Mutter kochte ihr Pfefferminztee, weil sie keinen Kaffee vertrug. Mutti meinte: »Sie passt zu dir, mein Junge. Endlich hast du die Richtige gefunden!« Am Samstagabend war er bei ihr gewesen. In ihrer schönen kleinen Neubauwohnung hatten sie es sich bei einem Glas Wein gemütlich gemacht.
»Sag mal, du nicht ziehen Mantel aus?«, hatte sie ihn gefragt, als er sich nach dem gemeinsamen Spaziergang in voller Montur aufs Sofa setzte.
Ich werde nicht lange bleiben, sagte er sich. Sonst ist Mutti so allein.
Er schaute durch die offene Küchentür und blickte auf die neue Waschmaschine, die er ihr von seinem knappen Lohn geschenkt hatte. Eine echte Miele W 3741, für 999 Euro.
Sie trug das rote Kostüm, in das er ebenfalls investiert hatte. Vor Dankbarkeit war sie ihm um den Hals gefallen und hatte ihn auf beide Wangen geküsst. »Du so gut zu mir!«, hatte sie mit Tränen in den Augen zu ihm gesagt.
Waschmaschine, Kostüm, unzählige Essenseinladungen, Parfüm, prall gefüllte Einkaufskörbe im Supermarkt. Alles Investitionen, die sich nicht rentiert hatten. Wollte er ihr an den Busen fassen oder ihr den Rock öffnen, zierte sie sich, sprang unter irgendeinem Vorwand auf und verschwand aus dem Zimmer, um kurz darauf mit geordneten Klamotten wieder den Raum zu betreten. Wozu also den Mantel ausziehen? Ihm schien, als ekelte sie sich vor ihm. Er fühlte sich ausgenutzt. Die Zeit lief. Drei Monate und viel Geld waren scheinbar verschenkt.
Wie lange musste man wohl zudrücken, bis so ein Leben ausgehaucht war?, fragte er sich, immer noch an Sabines Grab stehend. Frauen meinen, sie können sich alles erlauben. Spielen mit ihren Reizen, machen einen verrückt und zeigen dann die Rote Karte. Falsches Gesindel!
Er nahm seine Tasche und ging seines Weges. Heim zu Mutti an den gedeckten Tisch. Mutti war ehrlich. Mutti machte ihm nichts vor. Sie würde ihn trösten. Iwona war schließlich nicht die einzige Frau auf der Welt.
»Habe ich kennengelernt Landsmann von mir. Passen besser zu mir. Du verstehen?«, waren ihre letzten