Eisaugen. Margit Kruse
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»Ist traurig mit dieser jungen Frau, näh?« Er ging davon aus, dass jeder von der Toten vom Friedhof wissen müsse.
»Ja, schlimm«, antwortete Margareta. Sie war geschockt, dass er sie ansprach. Das waren in den 35 Jahren, in denen sie ihn kannte, die ersten Worte, die er an sie richtete. Und es sollte noch schlimmer kommen.
»Darf ich Sie zum Essen einladen, Karfreitag? Ich wohne hier oben!« Er deutete mit der Bierflasche zu den Fenstern seiner Wohnung hinauf.
»Ich weiß«, sagte sie nur und suchte in ihrem Gehirn schnell und gründlich nach einer plausibel klingenden, nicht verletzend wirkenden Ausrede. Doch er starrte sie voller Angst aus seinen kalt blickenden Eisaugen an. Ich habe noch nie so winzige Pupillen gesehen, dachte sie einen letzten klaren Gedanken, bevor sie aussprach, was sie selbst kaum glauben konnte.
»Ja, wieso nicht!«
»12 Uhr?«, fragte er sie hektisch mit belegter Stimme. Seine Hände zitterten so stark, dass die Zwiebelstückchen seines Mettbrötchens zu Boden fielen.
Mitleid ließ sie erneut »Ja« sagen.
Zu Hause angekommen zermarterte sie sich den ganzen Abend das Hirn, wieso sie nur diese unmögliche Essenseinladung annehmen konnte. War sie denn nach der Trennung von Bertl total durchgedreht? Zuerst ließ sie sich mit einem gar nicht vorhandenen polnischen Schuster ein, und nun kroch sie in die Wohnung eines Spähers, der nicht gerade prickelnd aussah. Sie nahm 20 Baldriantropfen und ging ins Bett. Ihre Heißhungerattacke war schlagartig verflogen.
Nun saß sie hier, nahm zögernd die alte Gabel mit den enorm langen Zinken in die Hand und begann zu essen. Na ja, bei dem Gericht konnte er nicht viel falsch machen. Schlemmerfilet aus dem Gefrierfach war Margaretas Verzweiflungsgericht A, wenn ihr nichts Besseres einfiel. Verzweiflungsgericht B war Miracoli, allerdings aufgepeppt mit 100 Gramm Gehacktem. Für alle Fälle gab es noch ein drittes Verzweiflungsgericht. Nämlich C: Zwiebel-Sahne-Hähnchen. Dieses Päckchengericht fand sie einfach praktisch. Jedoch würde sie nie jemandem, den sie zum Essen einlud, eines ihrer A-, B-, oder C-Gerichte vorsetzen.
Eisauge war allerdings stolz, überhaupt irgendetwas hinbekommen zu haben. Und der Fisch war sogar gut durch, stellte sie verblüfft fest. Also musste er lesen können und die Garzeit genau eingestellt haben. Dazu reichte er einen 98er-Chardonnay und sie wunderte sich, wie er an den Wein gekommen war. Sie tranken ihn zwar aus Wassergläsern der einfachsten Sorte, aber immerhin. Auch das Besteck hatte er richtig hingelegt, es lag sogar ein kleiner Löffel für den Nachtisch bereit. Apfelmus aus dem Glas. Auf eine Tischdecke hatte er verzichtet. Einzig Plastikunterlagen mit Entenmotiven zierten den alten Holztisch.
Sie saßen in seiner Wohnküche, eines seiner zwei Zimmer. Der Tisch stand mitten im Raum und trotzdem nahe am Fenster. Vier Stühle waren darum drapiert. An der Wand vor ihr stand ein Gelsenkirchener Barockschrank, daneben befanden sich die Spüle, der Herd sowie der Kühlschrank. Hinter ihr hatte ein altes Sofa seinen Platz, dicht davor ein Tischchen mit einem Fernsehgerät. Der Raum war zwar spartanisch eingerichtet, aber alles war sauber, worüber sie erstaunt war. Sie hoffte inständig, das Schlafzimmer nicht sehen zu müssen.
Wie lange muss man zu einer Mittagessenseinladung bleiben? Wann kann ich gehen, ohne unhöflich zu wirken? Diese Fragen geisterten in ihrem Kopf.
Er prostete ihr mit dem Chardonnay-Wasserglas zu.
»Ich heiße Karl-Heinz! Meine Freunde nennen mich Charly!« In seinem Blick lag so viel Freude, dass sie nicht anders konnte, als nett zu ihm zu sein. Das Helfersyndrom! Da war es wieder!
»Ich heiße Margareta!«, erwiderte sie und zwang sich, ihn freundlich anzusehen.
»So ein schöner Name!«, strahlte er sie an.
Beruhigt stellte sie fest, dass in seinem Mund Zähne vorhanden waren. Sie lagen zwar tiefer, als es normalerweise der Fall war – ein tiefer gelegtes Auto war für manche etwas Tolles –, aber immerhin hatte er welche. Trotzdem ein komischer Kerl.
Nachdem er eine halbe Flasche Chardonnay intus hatte, wurde er redseliger und berichtete ihr aus seinem bescheidenen Leben. Er ließ sie kaum zu Wort kommen und erzählte, während er das dünnflüssige Apfelmus schlürfend in sich aufsog, alles, was er schon längst mal jemandem mitteilen musste.
Wieso immer ich?, schrie eine Stimme in ihr. Wieso muss ich mir seine Lebensgeschichte anhören? Das kann doch alles nicht wahr sein! Wohin wird mich meine Gutmütigkeit noch bringen?
Als er anfing, Details von seiner Tätigkeit als Leichenwäscher, damals, vor zehn Jahren, zu erzählen und ihr Fotos von besonders schönen Leichen zeigen wollte, stand sie abrupt auf und verabschiedete sich unter dem Vorwand, zu ihrer Mutter zu müssen.
Wenn Waltraud wüsste, mit wem sie heute gespeist hatte, sie würde einen Anfall bekommen und ihre Tochter für verrückt erklären. Immerhin war Margareta so schlau, ihr Hirn einzuschalten, um bloß keine Gegeneinladung auszusprechen. Zu Ostern vielleicht? Fest der Freude und Fruchtbarkeit! Oh nein, genug der Barmherzigkeit!
Sie machte sich unmittelbar auf den Weg zu ihren Eltern. Sie brauchte jetzt einfach Abwechslung. Einen Kontrast zu diesem Idyll. Auch auf die Gefahr hin, dass wieder mal der Leichenfund auf dem Friedhof durchgekaut werden würde.
Als sie in das verräucherte Wohnzimmer ihrer Eltern kam, dachte sie, sie betrete eine Kneipe zu bester Stunde. Alle redeten gleichzeitig, euphorisch laut, schienen auf Drogen zu sein. Auf dem altdeutschen Mohairsofa saß in der Mitte ihr Vater, rechts daneben ihr Bruder Gisbert, links seine Frau Heidrun. Auf der kleinen Zweiercouch unter dem Fenster ihr Neffe, der ganz nach seiner Mutti kam, daneben Irene Walter, die Nachbarin. Auf dem Sessel gegenüber, in einem weißen Arztkittel – wo sie den bloß wieder herhatte –, Margaretas Mutter.
Die Halbglatze ihres Vaters glänzte wie eine in Öl geröstete Erdnuss. Sein weißes Oberhemd spannte über seinem Bauch, den er stolz herausstreckte. Er übertönte mit seiner sonoren Stimme die anderen, fuhr, wie immer, wenn er einen sitzen hatte, den anderen über den Mund, wusste alles besser, hatte alles selbst schon mal erlebt. Sie fragte sich, was an so einem Feiertag, im Kreise der Familie, die Nachbarin Irene Walter hier verloren hatte. Margareta mochte sie nicht. Ihr Vater dafür umso mehr. Er starrte ihr in den immens tiefen Ausschnitt ihres selbst gehäkelten Pullovers und wäre offensichtlich mit seiner fettigen Nase am liebsten zwischen ihre faltigen Brüste gekrochen.
Ihre Mutter holte Margareta einen Stuhl aus der Küche und stellte ihn so hin, dass sie ihrem Vater gegenübersaß. Margareta wusste, wie das nächste Stadium seiner Feiertagsschnapslaune aussehen würde. Krampfhaft würde er in seinem Hirn nach schlüpfrigen Witzen kramen, um sie zum hundertsten Male kundzutun und die Reaktionen der anderen zu testen. Irene Walter würde am lautesten lachen, ja, regelrecht quieken, und sich nach hinten werfen. Und ihr Vater würde immer geiler werden.
Kurz darauf kam es, wie sie prognostiziert hatte. Es folgte ein hohler Spruch aus der untersten Schweinkramschublade ihres Vaters, den er mit feuchter Aussprache in den Raum schrie und Irene grunzte wie ein Ferkel: »Huch, Günther, hä, hä, hä, du bist aber ein ganz Schlimmer!«
Spätestens jetzt hätte sie an ihrer Mutter Stelle die gute Nachbarin an Hals und Kragen gepackt und vor die Tür gesetzt. Ihrem Vater hätte sie die Flasche Ouzo weggenommen. Aber Waltraud Sommerfeld tat nichts, saß nur da, in ihrem unmöglichen gestärkten Kittel, und erduldete mit Gönnerblick das Gockelgehabe ihres Mannes.
Wieso hat man nicht Irene Walter ermordet? Eine so junge Frau