Das Sandmann-Projekt. Anette Hinrichs

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Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs

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Nebenzimmer klingelte ein Handy, und die Musik wurde leiser gedreht. Das Klackern von hohen Absätzen auf dem Parkett war zu hören, und Sekunden später wurde die Tür geöffnet.

      »Deins.« Verena hielt ihm sein Handy entgegen und wie immer in letzter Zeit hatte ihre Stimme einen vorwurfsvollen Klang.

      Wolfgang setzte zu einer liebevollen Bemerkung an, doch die Tür fiel schon wieder hinter Verena ins Schloss, und die Musik wurde lauter gestellt. Verdammt, sie gab ihm auch nicht die geringste Chance, sich ihr zu erklären!

      Wolfgang blickte auf das Display des klingelnden Handys. Unbekannte Nummer. Er räusperte sich kurz, ehe er sich mit ruhiger Stimme meldete. »Wolfgang Herzog.«

      »Grabowsky.«

      Wolfgang holte tief Luft. »Du sollst mich doch nicht anrufen!«

      »Hast du heute schon in die Zeitung geschaut?«

      »Nein.«

      Es blieb einen Moment still am Telefon, ehe Grabowsky erneut sprach: »Wenninger ist tot.«

      »Was sagst du da?« Unvermittelt begann Wolfgang zu schwitzen.

      »Ich sagte, Wenninger ist tot. Es stand heute früh im Abendblatt. Ein gewisser Kurt W. aus Wohldorf-Ohlstedt wurde in seinem Haus tot aufgefunden. Ich kenne den Redakteur. Er hat mir bestätigt, dass es sich um Wenninger handelt.« Grabowsky hob die Stimme. »Die Polizei geht von einem Tötungsdelikt aus.«

      »Verdammt.« Wolfgang lockerte mit einer Hand seinen Krawattenknoten.

      »Wir sollten uns treffen.«

      »Ich muss erst darüber nachdenken.« Er legte auf. Sekundenlang verharrte er und starrte auf das Handy in seiner Hand. Dann verließ er das Schlafzimmer, durchquerte das Nebenzimmer und ging in sein Arbeitszimmer, ohne die Stille in der Wohnung zu bemerken. Er setzte sich in seinen Ledersessel hinter dem massiven Schreibtisch, lehnte sich an die Rücklehne und schloss die müden Augenlider. Dann rief er sich das letzte Zusammentreffen mit Kurt Wenninger ins Gedächtnis.

      Kurz vor zehn saß Malin mit dem Telefonhörer am Ohr an ihrem Schreibtisch und lauschte dem Song Dancing Queen.

      Zuvor hatte sie sich in der Kriminaltechnik nach Gegenstandsspuren in Wenningers Blazermantel erkundigt. Neben einer Brieftasche mit üblichem Inhalt hatten die Kollegen in einer der Seitentaschen eine Taxiquittung sichergestellt. Datum und Uhrzeit auf dem Beleg passten zur Aussage der Nachbarin. Start- und Zielort hingegen fehlten.

      Malin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch. In der Warteschleife von Alster-Taxi war noch immer Dancing Queen zu hören. Zum siebten Mal in Folge.

      »So, ich hab mit dem Fahrer gesprochen«, meldete sich der Disponent, nachdem das Lied zwei weitere Male vom Band gelaufen war. »Sie haben Glück, der Kollege konnte sich an den Fahrgast erinnern. Der alte Herr soll ziemlich betrunken gewesen sein.«

      Malin zückte ihren Stift. »Zu welcher Adresse wurde das Taxi bestellt?«

      »Nirgendwohin. Der Fahrgast ist am Langenhorner Markt eingestiegen.«

      Malin machte sich eine entsprechende Notiz. »Ich würde gerne mit dem Fahrer persönlich sprechen.«

      »Dann geben Sie mir Ihre Nummer.« Der Disponent wirkte genervt. Im Hintergrund klingelte pausenlos das Telefon. »Ich sorge dafür, dass der Kollege Sie in seiner nächsten Pause anruft.«

      »Gut.« Malin nannte ihm ihre Handynummer. »Und bitte sagen Sie ihm, dass es dringend ist.« Doch ihr Gesprächspartner hatte bereits aufgelegt.

      Langenhorner Markt, grübelte Malin. Wo konnte Wenninger gewesen sein, mitten in der Nacht und betrunken?

      Die Tür ging auf und Andresen stapfte, dicht gefolgt von Tiedemann, ins Büro. Ein ungleiches Paar, dachte Malin nicht das erste Mal beim Anblick der beiden Ermittler. Andresen war wieder von oben bis unten in dunkles Leder gehüllt, an den Füßen trug er ausgelatschte Cowboystiefel. Im Gegensatz zu seinem rothaarigen Kollegen wirkte Ole Tiedemann in seiner grauen Bundfaltenhose, dem gebügelten Oberhemd und seinem akkurat gescheitelten Haar wie aus dem Ei gepellt. Unter dem Arm trug er eine schwarze Ledermappe. Seine blassen Wangen waren leicht gerötet, und er lächelte zufrieden.

      »Es sieht aus, als hättet ihr Neuigkeiten.«

      »Wir kommen gerade von der Haspa-Filiale in Volksdorf.« Tiedemann öffnete die Ledermappe und reichte ihr ein Dokument in einer Klarsichthülle. »Wenninger hatte dort ein Bankschließfach.«

      Die Überschrift des Papiers stach Malin sofort ins Auge: Mein letzter Wille. Schweigend las sie das Testament, das auf einen Tag im Februar 1991 datiert war. Kurt Wennninger hatte seinen gesamten Besitz einem einzigen Menschen vermacht. Sie hob den Kopf. »Wer zum Teufel ist Michael Baumann?«

      Die Durchsage informierte die Passagiere, dass der ICE den Zielbahnhof Hamburg Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreichen würde. Michael Baumann wuchtete seine Sporttasche aus dem Gepäckfach.

      Höchstens eine Woche würde er in Hamburg bleiben. Das hatte er Ina versprochen. Ohnehin hatte es ihn Überwindung gekostet, sie und die Kleine zurückzulassen. Seit der Geburt seiner Tochter vor knapp zwei Jahren war er nicht einen Tag von seiner Familie getrennt gewesen. Trotzdem musste sie sein, diese Reise, von der er noch nicht wusste, wohin sie ihn führen würde.

      Jemand rammte ihm einen Koffer in die Waden und drängelte sich ohne Entschuldigung vorbei. In seiner Hosentasche kündigte ein Fiepen den Eingang einer SMS auf seinem Handy an. Er zog es heraus. Ina wünschte ihm viel Glück.

      Michael reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Der ICE passierte die Elbrücken. Dicht an dicht stapelten sich die Container wie Bauklötze auf den Kaianlagen. Michael spürte einen Kloß im Hals. Würde er in Hamburg endlich die Antworten auf die Fragen finden, die ihn so quälten? Er durfte jetzt auf keinen Fall kneifen. Nicht, bevor er Gewissheit hatte.

      Der ICE verringerte sein Tempo. Eine riesige Kuppel aus Stahl und Glas kam in Sicht. Wenige Augenblicke später fuhr der Zug in den Bahnhof ein und kam zum Stehen.

      Michael wartete geduldig, bis die Reisenden vor ihm ausgestiegen waren, dann trat er auf den Bahnsteig.

      »Wer ist Michael Baumann?«, wiederholte Fricke Malins Frage eine halbe Stunde später. Er starrte mit gekrauster Stirn auf das handschriftliche Testament in seiner Hand. »Die Verfügung stammt von 1991. Dem Geburtsdatum nach war Michael Baumann zu dem Zeitpunkt zwölf Jahre alt.« Er hob den Blick und sah zu seinem Stellvertreter. »Ein Kind.«

      Tiedemann nickte. »Möglicherweise Wenningers Kind.«

      »Wenninger war nie verheiratet«, warf Malin ein.

      Andresen grinste anzüglich. »Manche Männer verstreuen ihre Samen in jede Windrichtung.«

      Fricke blätterte im Anhang des Testaments. »Als Vermögenswerte wurden das Haus im Schleusenredder und ein Festgeldkonto angegeben.«

      »Und damit reden wir über eine halbe Million Euro.« Tiedemann nahm Fricke die Dokumente aus der Hand und ging damit zu seinem Schreibtisch. »Laut Testament wurde Michael Baumann in Berlin geboren.« Er tippte einige Befehle in seine Computertastatur. »Ich habe mit einem Berliner Kollegen gesprochen und der hat mir den EWO-Eintrag für Michael Baumann geschickt.«

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