Das Sandmann-Projekt. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Das Sandmann-Projekt - Anette Hinrichs страница 16
»Bis morgen, Brodersen«, brummte Fricke. Seine Augen blickten besorgt.
01. Februar 1979
Kein Baum, kein Strauch, kein Himmel. Andauernd nur triste Wände und das stetige Summen der Neonröhre, deren grelles Licht sie langsam genauso in den Wahnsinn trieb wie das ewige Warten, dass endlich etwas geschah.
Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden, Stunden zu Tagen. Zumindest vermutete Rena, dass mehrere Tage vergangen waren, seit man sie im Morgengrauen in ihrer Wohnung aus dem Schlaf gerissen hatte. Wissen konnte sie es nicht.
Die Stille und die Einsamkeit waren das Schlimmste. Manchmal hörte sie Schritte vor der Tür oder das schmatzende Geräusch von Gummirädern, bevor ihr das Essen durch die Klappe gereicht wurde.
Rena erhob sich von ihrem Hocker und begann, den schmalen Raum abzulaufen. Sieben Schritte bis zur Tür, sieben Schritte zurück. Ihre Gedanken wanderten zu dem Augenblick, als man ihr die Augenbinde vom Kopf gerissen hatte. Scheinwerferlicht hatte sich wie Tausend kleine Nadelstiche in ihre Netzhaut gebrannt und sie hatte sich ohne Protest durch einen langen Flur zu einem hell erleuchteten Raum führen lassen.
Krampfhaft versuchte Rena die Erinnerung, was darin geschehen war, aus ihrem Gedächtnis zu drängen. Umdrehen. Ausziehen. Bücken. Jede Körperöffnung war genauestens untersucht worden.
Rena beschleunigte ihren Schritt. Sieben Schritte hin, sieben Schritte zurück. Was passierte hier? Warum half ihr keiner? Wo blieb Peter? Ihr wurde schwindelig und sie sank zurück auf den Hocker unter den Glasbausteinen. Stille umfing sie.
Ihr Puls raste. Ich drehe durch, dachte Rena. Sie atmete mehrfach tief durch und spürte, wie sich ihr Puls langsam wieder normalisierte. Ich muss mich zusammenreißen. Für Romy. Für meinen Mann.
Sie hatte Peter im Jugendclub kennengelernt. Damals war sie gerade sechzehn geworden. Noch am gleichen Abend hatte er sie geküsst und ihr gesagt, dass er sie eines Tages heiraten würde. Rena war regelrecht dahingeschmolzen und hatte sich wie in einem dieser Kitschromane gefühlt, die sie so gerne in der Badewanne las. Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sie und Peter füreinander bestimmt waren. Das war sie bis heute.
Rena hörte Schritte im Flur. Vor ihrer Tür hielten sie an. Sie wartete darauf, dass sie sich wieder entfernten, doch stattdessen wurde ein Schlüssel zweimal im Schloss gedreht. Dann wurde die Tür geöffnet.
9
Michael Baumann glitt aus einem unruhigen Schlaf. Er hatte einen Albtraum gehabt, an den er sich nur noch schemenhaft erinnern konnte. Da war diese Frau gewesen …
Er öffnete die Augen. Sein Blick erfasste die bunt gemusterte Tapete und erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er in einem Hamburger Hotelzimmer war. Und warum.
Er schob die Bettdecke beiseite und stand auf. Im hellblau gefliesten Badezimmer starrte ihm sein Spiegelbild entgegen. Etliche rote Stressflecken überzogen sein Gesicht. Verdammt.
Schon als er gestern aus dem Zug gestiegen war, hatte er geahnt, dass ihm ein schwieriger Weg bevorstand. Deshalb hatte er sich zunächst ein Hotel gesucht. Um zur Ruhe zu kommen. Doch statt zu schlafen, hatte er sich die halbe Nacht in dem fremden Bett hin- und hergewälzt. Und nun das! Es geschah immer in den unpassendsten Momenten.
Michael schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Tief einatmen. Ausatmen. Einatmen und ausatmen. Manchmal half es. Dieses Mal nicht. Die Flecken blieben.
Plötzlich sehnte er sich nach Ina und seiner kleinen Tochter. Wäre er bei ihnen zu Hause geblieben, würde es ihm jetzt vermutlich besser gehen. Dann schalt er sich selbst einen Narren. Die Unruhe würde ihn einholen, wie sie es immer tat. Sie begleitete ihn bereits sein ganzes Leben. Nein, er musste da jetzt durch, musste sich endlich Gewissheit verschaffen.
Er wandte seinem Spiegelbild den Rücken zu und zwängte sich in die kleine Duschkabine hinter der Badezimmertür. Dann duschte er lang und ausgiebig, putzte sich anschließend die Zähne und rasierte sich sorgfältig. Als er damit fertig war, bemerkte er zufrieden, dass die Flecken fast aus seinem Gesicht verschwunden waren. Sein Magen knurrte. Er hatte sein Zimmer ohne das überteuerte Frühstück gebucht und überlegte nun, ob er sich in der Nähe ein Café suchen sollte.
Michael schlüpfte in seine Kleidung und kontrollierte seine Brieftasche, ob er genügend Bargeld hatte. Dabei stach ihm der gelbe Notizzettel mit der Adresse ins Auge. Er kannte sie mittlerweile auswendig. Sein Puls beschleunigte sich. Ohne in den Spiegel zu schauen wusste er, dass sich die Flecken in seinem Gesicht wieder ausbreiteten.
»Ich kenne keinen Michael Baumann.« Ilse Wenninger verschränkte ihre Arme demonstrativ vor der Brust. In ihren alterstrüben Augen blitzte es. »Wer soll das denn sein?«
Malin unterdrückte ein Seufzen. Seit einer geschlagenen Viertelstunde versuchte sie, brauchbare Informationen aus dieser widerspenstigen Person herauszuholen. Ohne Erfolg. Ilse Wenninger war ein harter Brocken. »Das ist der Mann, der von ihrem Bruder als Alleinerbe ins Testament eingesetzt wurde.«
»Als …« Ilse Wenninger blieb das Wort buchstäblich im Hals stecken. Sie wirkte sichtlich geschockt.
»Was ist zwischen Ihnen und Ihrem Bruder vorgefallen?«, schob Malin nach.
Ilse Wenningers Züge wirkten wie versteinert.
»Frau Wenninger?«
»Das geht niemanden etwas an.« Ihre Stimme war kalt und schneidend.
»Frau Wenninger, wir müssen den Mord an Ihrem Bruder aufklären«, entgegnete Malin scharf. »Uns geht alles etwas an, das mit ihm in Zusammenhang steht. Wenn Sie meine Fragen nicht beantworten, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sie mit ins Polizeipräsidium zu nehmen. Möchten Sie das?«
Ilse Wenningers Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengekniffen, als sie schließlich den Kopf schüttelte.
»Was hatte Ihr Bruder für eine Verbindung nach Berlin?«
Malins Frage schien die Frau zu irritieren. Sie öffnete ihre Haltung. »Na, Kurt hat doch in Berlin gelebt. In Ost-Berlin. Er ist erst nach der Wende zurück nach Hamburg gekommen.«
»Ach«, sagte Malin überrascht und zückte ihr Notizbuch. »Erzählen Sie mehr darüber. Was hat Ihren Bruder nach Berlin verschlagen? Noch dazu in den Osten der Stadt?«
Die alte Frau musterte sie abschätzig. »Sie sind noch zu jung, um das zu verstehen.« Ehe Malin protestieren konnte, sprach Ilse Wenninger weiter: »Ich war noch ein Kind, damals, während des Krieges.« Sie senkte den Blick auf ihre gefalteten Hände. »Unser Vater war Berliner. Und ein elender Kommunist! Doch das erfuhr ich erst, als ich bereits erwachsen war. Meine Mutter lernte meinen Vater Anfang der dreißiger Jahre hier in Hamburg kennen, als er zu Besuch bei Bekannten war. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick. Meine Großeltern waren damals angesehene Leute in Hamburg. Als meine Mutter mit Kurt schwanger wurde, war es beschlossene Sache, dass ihr Enkelkind im Kreis der Familie aufwachsen würde. Zwei Jahre später bin ich dann auf die Welt gekommen.« Ilse Wenninger hob den Blick. »Mein Vater hat sich in Hamburg nie richtig wohlgefühlt. Immer wieder sprach er davon, zurück nach Berlin zu gehen. Zwischen meinen Eltern ist es deswegen ständig zum Streit gekommen.« Ein milder Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. »Kurti und ich haben uns gemeinsam unter der Bettdecke verkrochen, wenn sie sich stritten. Wir hatten