Gin - Alles über Spirituosen mit Wacholder. Karsten Sgominsky
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Januar 1734. Judith Defour, Arbeiterin in einer Spinnweberei, holte ihre 2-jährige Tochter Mary vom kirchlichen Armenhaus, in dem das Kind schon seit Wochen in Obhut genommen wurde, für einen Besuchstag ab. Man hatte Mary schick zurechtgemacht und mit einem Petticoat, Strümpfen und Jacke ausstaffiert. Judith gab Mary jedoch nicht wie verabredet am Nachmittag wieder ab, denn etwas Grauenvolles geschah: Judith zog der kleinen Mary auf einem Feld die Kleider aus, um sie zu verscherbeln und vom Erlös ein paar Gläser Gin kaufen zu können. Als das Mädchen in der Kälte laut weinte, erdrosselte Judith ihre Tochter, ließ sie im Graben liegen und ging in eine Kaschemme, um Gin zu trinken. Dieser schockierende Vorfall rief tiefe Bestürzung in ganz London hervor und wurde von den Gin-Gegnern als abscheuliches Beispiel für Gewalt angeführt, die durch Alkoholsucht hervorgerufen wird, um im Parlament Gehör für ihren Anti-Gin-Kreuzzug zu finden.
Als der öffentliche Druck 1736 immer größer wurde, versuchte man es mit einer Notbremse. Der dritte Gin Act wurde verabschiedet, der völlig überzogene Lizenzgebühren, horrende Steuern und zusätzlich einschränkende Konditionen beinhaltete. Der verfolgte Zweck war, die Herstellung und den Konsum von Spirituosen durch drastische Auflagen stark zu minimieren, aber diese Maßnahme kam effektiv einem Verbot des Gins gleich. Das verursachte landesweiten Aufruhr (bis hin zu vereinzelten Unruhen) und für «Madame Geneva» wurden gespielte Begräbniszeremonien zelebriert.
Die Undurchführbarkeit dieses dritten Gin Acts wurde sehr bald offensichtlich. Die Kriminalität blieb unvermindert, Korruption stand auf der Tagesordnung und illegales Destillieren nahm überhand, da es an organisierten Strukturen fehlte, diesem auf die Schliche zu kommen und es nur durch Informanten aufgespürt wurde, die sie – falls nicht be- oder erstochen – verraten würden. Deshalb hob man diesen völlig missglückten Versuch von einem Gin Act 1742 wieder auf.
Ein Jahr später wagte man mit dem vierten Gin Act einen neuen Versuch, die Übel zu bekämpfen und gleichzeitig viele dringend benötigte Steuergelder einzunehmen. Aber selbst mit dieser neuen Gesetzgebung, die Abgaben und Einschränkungen vernünftiger gestaltete, war keine entscheidende Besserung der durch die «Gin Craze» («Gin-Begeisterung» bzw. «Gin-Verrücktheit») herbeigeführten Probleme zu verzeichnen. London produzierte in diesem Jahr eine exzessive Menge Gin: weit über 80 Millionen Liter.
Rettung nahte 1751. In Petitionen an das Parlament und auf Anraten ärztlicher Gutachterkommissionen, die umgehendes Einschreiten forderten, traten der «Tippling Act» und weitere Verordnungen in Kraft, die den Gin Act von 1743 in akzeptablen Maßen verschärften. Produktion, Verkauf und Verzehr wurden durch Steuererhöhungen und vor allem durch die Einführung von Schanklizenzen besser kontrolliert als je zuvor.
Einen nicht geringen Anteil an diesem letzten Gin Act, der die stark betroffenen Teile Londons wieder auf einen zivilisierten Weg bringen sollte, hatten Künstler und Publizisten, die auf ihre Weise die unhaltbaren Zustände dokumentierten. Der englische Maler und Grafiker William Hogarth hielt die Auswüchse und Destruktion des Alkoholismus in seinem Stich «Gin Lane» von 1751 fest. In der Mitte des Bilds sieht man eine entmenschte Mutter, die stumpfsinnig in der Tabakdose scharrt und dabei achtlos ihr Kind fallen lässt. Das Schild über der Eingangstür zur Kellerkneipe titelt: «Drunk for a Penny / Dead Drunk for Two Pence / Clean Straw for Nothing» («Betrunken für einen Penny / Sturzbetrunken für zwei Pence / Sauberes Stroh umsonst»). Ein sehr kraftvolles Stück Propaganda, das seine politische Wirkung nicht verfehlte.
«Gin Lane» von William Hogarth, 1751
Gin Craze – ganz London im Delirium?
Die Kapitelüberschrift spiegelt den Eindruck wider, den man durch die Beschreibungen der Londoner «Gin Craze»-Periode in der Regel gewinnt. Dieses Bild muss man jedoch relativieren.
London war kein einziger Moloch von Trinkern und Kriminellen aller Couleur. Diese Trunksucht und der damit einhergehende krasse soziale Verfall mit einem allgegenwärtigen «Gevatter Tod» spielten sich größtenteils in den Armenvierteln Londons ab und betrafen Männer wie Frauen sowie leider auch Kinder. Durch das plötzliche Fehlen jeglicher Qualitätsstandards und Kontrollorgane konnte jeder – selbst der gröbste Dilettant – Gin destillieren. Der oftmals auf plumpe Weise produzierte Gin war ungenügend rektifiziert und enthielt zumeist alles andere als Kräuter, Beeren und Gewürze. Auch wir haben uns gefragt, was denn verwendet wurde, das den Gin der Unterschicht so gesundheitsschädlich machte, und wurden unter anderem beim Weinessighersteller Beaufoy, James & Co. fündig, der eine «Rezeptur» jener Zeit wie folgt beschreibt:
Schwefelsäure
Zitronenwasser
Mandelöl
Rosenwasser
Terpentinöl
Alaun
Weinalkohol
Salz von Weinstein
Stangenzucker
Der Quäker Mark Beaufoy, der um 1741 zum Partner der Firma wurde, fuhr in seinen frühen Jahren nach Holland, um die Essigbraumethoden im kontinentalen Europa zu studieren. Man sagt, er lehnte Gin-Destillation ab, nachdem er Hogarths «Gin Lane» sah und der verwendeten Substanzen gewahr wurde.
Gottlob gab es im Gegensatz zu diesen gewissenlosen Kreaturen, die todbringenden Alkohol verschacherten, auch respektable Destillateure, die eine Berufsehre und ein Gewissen hatten. Sie übten ihr Handwerk standesgemäß aus und stellten ausrektifizierten und vernünftig aromatisierten Gin bzw. Geneva her, den sich allerdings fast ausschließlich nur die Herrschaften der oberen Schichten leisten konnten. Wenn auch etwas spät, so legte Ambrose Cooper mit seinem Werk «The Complete Distiller» («Der ausgereifte Destillateur») von 1757, in dem er wie zuvor schon Beaufoy auch Methoden und Zutaten anprangert, doch Zeugnis für die Existenz aufrichtiger Destilliermeister ab.
«Beer Street» von William Hogarth, 1751
Ohne Zweifel nehmen sich die Sterbestatistiken aufgrund des maßlosen Alkoholkonsums während der «Gin Craze» katastrophal aus, dennoch muss das durch den Pöbel entstandene Image Londons im Gesamtkontext gesehen werden. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich der Großteil der Londoner Bevölkerung zu benehmen wusste und sich überwiegend an Bier, Wein, Likören und verhältnismäßig gutem Gin labte. Diese Seite Londons wird sehr gut durch einen weiteren Stich von William Hogarth illustriert. Zeitgleich mit «Gin Lane» brachte er nämlich das Pendant «Beer Street» heraus. Dort sieht man die Leute glücklich, sorglos und geschäftig. Auch wenn diese Darstellung etwas idealisiert sein mag, so brachte sie doch eines ganz deutlich zum Ausdruck: Das Leben der «Beer Street» wollen wir haben, das der «Gin Lane» jedoch nicht.