„… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“. Richard A. Huthmacher

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„… dass die Welt zwischen den Liebenden verbrannt ist“ - Richard A. Huthmacher

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      Reinhard hatte das System von Herrschaft und Unterwerfung, das sie ihn Demokratie zu nennen gelehrt hatten, in Frage gestellt, indem er sich dessen Gestaltungs- und Ordnungsprinzipen nicht mehr kritiklos unterwarf; dadurch war er zum Ausgestoßenen, sozusagen vogelfrei geworden. Und konnte nur hoffen, dass man ihn nicht zugrunde richten würde. Denn Renegaten, Abtrünnige werden seit jeher aufs schwerste bestraft. Weil sie grundsätzlich in Frage stellen: bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse, den Irrsinn vorhandener Ordnungsstrukturen, die Vergewaltigung des Denkens, Fühlens und Seins. Weil sie – wie Fromm – ein richtiges Leben im falschen nicht für möglich halten und sehen und kundtun, wie die Menschen an diesem ihrem falschen Leben zerbrechen. Seelisch. Physisch. Existentiell.

      Worin bestand nun sein Verstoß gegen die „geltende Ordnung“? Schlichtweg darin, dass er heilen konnte, wo die Schulmedizin versagt. Dann heilen konnte, wenn die Schulmedizin hilflos war. Wenn sie Schwerstkranken mehr schadete als nützte. Beispielweise bei Krebserkrankungen. Aber nicht nur dort. Was er natürlich an Hand von Patienten-Akten beweisen konnte. Und weshalb „man“ (will heißen: die instrumentalisierte Staatsgewalt, der Erfüllungsgehilfe entsprechender Interessengruppen wie der Pharmaindustrie) bei ihm regelmäßig Hausdurchsuchungen machte, um Unterlagen zu beschlagnahmen und seiner Forschungsergebnisse habhaft zu werden. Die er zwischenzeitlich natürlich im Ausland und sonst wo in Sicherheit gebracht hatte. Hausdurchsuchungen, Überfälle, Bedrohungen und Ähnliches mehr. Wohlgemerkt auch des Staatsapparats. Wider jedes – formale – Gesetz natürlich.

      Auch wollte man ihn für verrückt erklären. Per Ferndiagnose, denn niemals hatte ihn ein Psychiater, einer dieser Schandflecke der medizinischen Zunft, auch nur zu Gesicht bekommen. Ver-rückt war er tatsächlich, indes nicht im Sinne von psychiatrisch krank. Vielmehr hatte er sich selbst aus der gängigen Ordnung ge-rückt, war damit in der Tat tatsächlich ver-rückt. Weil er nicht mehr das Profit-Spiel der Pharma-Industrie spielte. Sondern mit alternativen, will heißen nicht-schulmedizinischen Methoden seine Patienten heilte. Für einen verschwindend kleinen Bruchteil der Kosten, welche die Schulmedizin verursacht. So dass er sich des Verbrechens schuldig machte, das überaus profitable Geschäft des medizinisch-industriellen Komplexes zu stören.

      Jedenfalls war dieser Versuch, ihn zu psychiatrisieren, um ihn unter Bruch sämtlicher formaler Gesetze wegzusperren, eine elegante Art, sich seiner zu entledigen. Ihn umzubringen hätte möglicherweise zu viel Aufsehen erregt. Einen Kennedy, eine Marylin Monroe, eine Lady Dy, auch einen Johannes Paul I. kann man nicht einfach wegsperren, die muss man eliminieren. Bei einem kleinen Arzt verhält es sich umgekehrt.

      Trotz alledem würde Reinhard niemals freiwillig aufgeben. Bis er den Tod seiner Frau „gerächt“, will heißen, die Täter benannt und in der Öffentlichkeit bloßgestellt hatte: als eitel, dumm – im Sinne von ignorant, also nicht-wissend, nicht erkennend, kritiklos bejahend, ohne je zu hinterfragen; auch im landläufigen Sinne „gebildete“ Menschen können durchaus ignorant sein! –, als egoistisch, machthungrig und skrupellos. Bis er ihnen die ehrenwerte Maske vom weniger ehrenwerten Gesicht gerissen und sie als Protagonisten einer Spezies bloßgestellt hatte, wie diese in vielen gesellschaftlich führenden Positionen und nicht minder selten im Gesundheitswesen anzutreffen ist.

      Ihm fielen die Gedichtzeilen des „Trotz alledem“-Gedichts von Freiligrath ein, geschrieben nach der gescheiterten Revolution von 1848:

      „…Denn ob der Reichstag sich blamiert

      Professorhaft, trotz alledem!

      Und ob der Teufel regiert

      Mit Huf und Horn und alledem –

      Trotz alledem und alledem,

      Trotz Dummheit, List und alledem,

      Wir wissen doch: die Menschlichkeit

      Behält den Sieg trotz alledem!“

      Und ihm fielen Dr. Großkotz, Prof. Neunmalklug und Frau Prof. Tausendschön ein, die in unheilig dreifaltiger Einigkeit seine Frau nicht nur auf dem Gewissen, sondern, im wahrsten Sinne des Wortes tatkräftig, Hand an sie gelegt hatten.

      Die Stille im Totenzimmer der Palliativstation war unerträglich, schnürte ihm die Kehle zu, hinderte ihn zu schreien. Zu schreien, bis er außer Atem war. Zu schreien, bis sein Gesicht anschwoll, seine Augen rot unterliefen, sein Kopf zu platzen drohte. Hinderte ihn, sein Elend, seine Verzweiflung, seine nicht in Worte zu fassende Not aus sich heraus zu brüllen.

      Stattdessen schrie er stumm. Wie Edvard Munch. Der seine eigene Seelenpein in vier nahezu identischen expressionistischen Meisterwerken zum Ausdruck brachte. Und von denen er, Reinhard, vor vielen Jahren eines, soweit er sich erinnern konnte dasjenige, welches Munch 1893 malte und das heute in der Norwegischen Nationalgalerie in Oslo hängt, zum Titelbild seiner Dissertation gewählt hatte.

      Schloss sich hier ein Kreis, konnte man den Bogen spannen von dem engagierten jungen Arzt, der sich bereits vor Jahrzehnten mit den nach wie vor tabuisierten Themen von Sterben und Tod beschäftigte, zu dem desillusionierten, gleichwohl weiterhin kämpferischen Chefarzt im vorzeitig-unfreiwilligen Ruhestand, den man zum Teufel gejagt hatte, weil er das Spiel von Profit, Betrug und Lüge nicht mehr mitspielen wollte?

      Kälte drang durch das geöffnete Fenster. Der Dezember-Frost sollte das Kühlhaus ersetzen. Schließlich wollte man den Angehörigen „eine schöne Leich“ präsentieren: Hatte man die Tote zu Lebzeiten mit Füßen getreten, bis aufs Blut gequält, so sollte wenigstens jetzt der Mantel des schönen Scheins über sie gebreitet werden. Welche Verlogenheit, welch Heuchelei.

      Natürlich durfte in diesem Szenario der Heuchelei der Pastor nicht fehlen. Jedenfalls nicht in einem religionsgebundenen Krankenhaus der erzkatholischen Stadt München. Wo die Uhren langsamer ticken, bisweilen Dekaden der Gegenwart hinterher.

      Angewidert verließ Reinhard das Zimmer, als seine Schwiegermutter, diese alte, heuchlerische Betschwester, auf die Knie fiel, um mit dem Geistlichen zusammen um Vergebung für die Sünden der Toten zu beten. Vergebung für die Sünden der Toten? Wer hatte hier gesündigt? Seine verstorbenen Frau gewiss nicht. Allenfalls diejenigen, die sie, die blitzgescheite, hochintelligente Philosophin und Theologin, mit Gewalt aus ihrem Haus ins Universitätsklinikum der Weltstadt mit Herz verschleppt, sie wochenlang in der psychiatrischen Abteilung gefangen gehalten und misshandelt, sie gegen ihren Willen und völlig überflüssig operiert und ihr bei dieser Operation eine sogenannte Krankenhausinfektion gesetzt hatten, weshalb sie in den folgenden Monaten dann mehr als dreißig mal nach-operiert wurde, bis sie elendiglich verstarb.

      Reinhard musste an den mittelalterlichen Hymnus vom Jüngsten Gericht denken, Ursprung des Requiem, Grundlage zahlloser literarischer Verarbeitungen und musikalischer Vertonungen:

      „Dies irae dies illa Tag der Rache, Tag der Sünden,

      Solvet saeclum in favilla: Wird das Weltall sich entzünden,

      Teste David cum Sibylla. wie Sibyll und David künden.

      Quantus tremor est futurus, Welch ein Graus wird sein und Zagen,

      Quando iudex est venturus, Wenn der Richter kommt, mit Fragen Cuncta stricte discussurus! Streng zu prüfen alle Klagen!

      Liber scriptus proferetur, Und ein Buch wird aufgeschlagen,

      In quo totum continetur, Treu darin ist eingetragen

      Unde mundus iudicetur. Jede Schuld aus Erdentagen.

      Iudex ergo cum sedebit, Sitzt

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