Otternbiss. Regine Kölpin
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Rothko sah, dass der Hund seine Schnauze ständig in Richtung Dünenkette drehte, der Zollbeamte ihn aber lieber am Wattsaum halten wollte.
Der Wind blies aus Osten, was sicher die klare Luft erklärte. Das schlechte Wetter kam fast immer aus Nordwest. Rothko spazierte noch ein Stück dagegen an, kehrte schließlich um und schlenderte über den Strand in Richtung der Dünen, die sich hier recht steil auftaten.
Der Kommissar betrachtete die überhängenden Dünenkämme. An einigen Stellen hatte der Sturm es geschafft, sie zum Einstürzen zu bringen. Wie Schneelawinen waren sie abgebrochen. Nicht mehr lange und der Wind würde den Sand davontragen. Nichts bliebe davon zu sehen. Die Dünenformation änderte sich ständig. Nie sah die Insel gleich aus. Ein ewiges Wechselspiel.
Rothko ließ sich vor der Anpflanzung nieder, die zum Schutz der Dünen errichtet worden war. Er griff mit der Faust in den Sand. Die feinen Körner rieselten zwischen den Fingern hindurch. Eine Möwe schrie gellend.
Dieser Ton löste in ihm eine Unruhe aus, die ihn an seine Zeit auf dem Festland erinnerte. Ein Gefühl, das ihn genau dann anfiel, wenn er in einem Fall eine Spur gewittert hatte, wenn er glaubte, auf der richtigen Fährte zu sein. Hier gab es allerdings nichts, nach dem er jagen konnte und wollte. Er war auf Wangerooge, um Abstand zu bekommen. Dass er so reagierte, zeigte ihm deutlich, wie nötig er eine Auszeit hatte. Doch ihm ging das Verhalten des Hundes nicht aus dem Kopf. Warum zum Teufel war der so erpicht darauf gewesen, vom Wasser weg genau in diese Richtung zu laufen?
Rothko schlug mit der geballten Faust im Sand herum. Er wollte diese Gedanken jetzt nicht zulassen. Er war hier, weil er seine Ruhe brauchte. Keine Verbrecherjagd mehr. Aus. Vorbei. Schluss.
Rothko erhob sich. Es war besser, wenn er weiterging und damit weitere Fantasien um das Theater, das der Hund gemacht hatte, im Keim zu ersticken.
Sein Blick wanderte dennoch zum Dünenkamm hinauf. Der war erst frisch abgebrochen und das Ausmaß recht groß. »Als ob jemand nachgeholfen hätte«, sagte er zu sich. Der Sand hatte sich großflächig verteilt, sah an einigen Stellen nicht verweht aus. Fußspuren gab es eine ganze Menge. Entweder hatten da oben Kinder herumgeturnt und dabei war der Kamm hinuntergestürzt oder aber …
Rothko entfernte sich. Er war wirklich krank. Hinter allem und jedem vermutete er ein Verbrechen. Was für eine armselige Kreatur er war.
Nach fünf Minuten hielt er jedoch inne, bohrte die Spitze seines Schuhs in den Sand. Drehte sein Gesicht zur Meerseite, beobachtete eine Sturmmöwe, wie sie ihr Gefieder putzte.
Nach weiteren fünf Minuten kehrte er in Richtung Osten um. Und nach wiederum fünf Minuten befand er sich hinter der Dünenbepflanzung und schabte mit dem Fuß im Sand herum.
Es dauerte nicht lange und er stieß auf einen Widerstand. Vorsichtig begann er, mit seinen Händen zu graben. Als er eine Stelle freigelegt hatte, wünschte er, er hätte sich niemals auf den Kompromiss eingelassen, seinen Dienst auf Wangerooge zu verbringen.
*
Er hat es getan. Es ist einfach passiert, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Er weint, schaut auf seine Hände. Gepflegt sind sie und enden in schönen Fingerkuppen. Kleine Haare sprießen über dem Gelenk. Sie bewegen sich, wenn er die Finger auf und nieder gleiten lässt. Wie Schwingen heben sich die Hände an, wie Schwingen senken sie sich erneut. Er spreizt die Finger leicht, sieht sich selbst gern an. Er ist zu schön und das ist ihm seit jeher zum Verhängnis geworden. Seine Schönheit, seine Weichheit … beides ein Fluch, sein Verderben. Er muss es tun. Immer wieder, weil er rein bleiben muss. Er muss sie bewahren. Sie sollen nicht in der Sünde verkommen. Gott hat ihn berufen.
Er schaut die Hände an. Junges Fleisch hat er damit gehalten, zentimeterweise ausgekostet.
Zu schön sind sie, wenn sie leben. Zu schön, wenn der Seewind ihnen das Haar aus dem Gesicht streicht. Er liebt den frischen Geruch, der von ihrer glatten Haut ausgeht, seine Nase streichelt. Wenn er aber diesen Duft aufsaugt, muss er ihn auslöschen. Weil er ihn nicht ertragen kann, weil er zu betörend ist. Weil dieser Duft sie in Gefahr bringt. Eine Gefahr, der sie nicht mehr entrinnen können. Wenn er nicht da ist. Es ist jedes Mal gleich.
Seine Arme drücken zu, umschlingen den kleinen dürren Körper. Immer kräftiger, bis alles in ihm danach lechzt, den Leib ganz in sich aufzusaugen, ihn zu verschlucken. Er lockert den Griff, wenn sein Gegenüber sich nicht mehr wehrt, weil es erstarrt ist, sich in sein Schicksal ergibt. Seine Hände tanzen über das Gesicht, tasten über jede Öffnung, jede Erhebung. Auch weiterhin rührt der Junge sich nicht. Als spüre der die Gefahr, die von seinen Händen, seinem ganzen Ich ausgeht. Er weiß, dass keine Chance besteht, dem Schicksal zu entrinnen. Der Mann selbst ist gespannt wie eine Feder. Sein Atem fließt ruhig und gezielt, fokussiert sich auf das Wesen, das er voll und ganz in der Hand hat. Er liebt diese Macht. Sie macht ihn unangreifbar, lässt ihn über dem stehen, was ihn einst erniedrigt hat. Der Mensch in seiner Hand ist ihm ergeben.
Seine Finger wandern weiter bis zum Hals, der so dünn ist, dass seine Hände ihn ganz umschließen.
Ein letzter Blick in Augen, die noch glänzen, jetzt ängstlich schauen. Ängstlich und gleichzeitig wissend. Er liebt den Augenblick kurz davor. Er braucht ihn, um eine Weile überleben zu können. Wenn er den Moment ausgekostet hat, drückt er zu. Die Augen werden größer und größer. Sie quellen aus dem Gesicht, zeigen die Tiefe der Seele. Es gibt nichts in der Welt, das erhebender ist.
Man muss gehen, um den Himmel zu erreichen. Es ist etwas Gutes, was er macht. Er bereitet den Weg ins Paradies. Kinder kommen immer dort hin. Wenn sie jedoch länger leben und eine Verfehlung nach der anderen begehen, wird das nicht mehr klappen. Dann bleibt nur noch der Weg nach unten in die Hölle. Davor schützt er sie. Die, die gefährdet sind.
Er ist ein guter Mensch, fast ein Engel auf Erden, der die unschuldigen Kinder vor dem Schlimmsten bewahrt. Er muss es tun. Vor allem bei den bestimmten kleinen Jungs, die den Schalk in den Augen haben. Er behütet sie vor den Fehltritten dieser Welt. Nur durch ihn haben sie die Chance, bei den Engeln zu wohnen. Er bereitet ihnen den direkten Weg dorthin. Es ist gut, was er tut. Gut und richtig.
Das letzte »Nein«, die Verzweiflung in der Stimme, die in dem Augenblick schon keine mehr ist, gepaart mit dem Geruch nach Todesschweiß, lässt sein Glied erigieren. Wenn das letzte Röcheln die kleinen Münder verlässt, begleitet er es mit seinem Timbre. Ein ähnliches Geräusch. Und doch ganz verschieden. Lust und Leid. Es hält sich die Waage. Er braucht den gemeinsamen Schrei. Er verspricht tiefe Erfüllung. Für den kurzen Moment schwebt er mit einer anderen Person auf einer Welle, ist ihr nah. Gibt es eine größere Nähe, als einem Menschen im Augenblick des letzten Atemzuges beizustehen, ihn zu halten?
Dann ist es vorbei. Der Körper hängt schlaff in seiner Hand, zu nichts mehr zu gebrauchen.
Danach folgt das Begreifen. Er hat Leben ausgelöscht. Sich zum Gott gemacht. Er muss sich hinterher übergeben. Jedes Mal. Und jedes Mal kommen die Tränen. Gepaart mit einem Schluchzer, der nicht von dieser Welt ist.
Wieder starrt er auf seine Hände. Sie können in ihrer Perfektion brutal sein. Auf das Begreifen folgt das Handeln. Keiner darf wissen, was er getan hat. Er kann planvoll vorgehen, das hat er gelernt. Er ist ein organisierter Mensch. Er fühlt sich stark. Jetzt.