Otternbiss. Regine Kölpin
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Ihr bestätigendes Nicken war ihm durch Mark und Bein gegangen. Auch ihr Satz: »Wir wollten eine schöne Reise machen. Nur wir beide«, war wie eine Anklage an das Leben.
Er hatte Schwierigkeiten gehabt, selbst den Würgereiz zu unterbinden. Diese Frau, mit all ihrer Tragik und dem Schmerz, der ihr so tief ins Gesicht geschnitten war, rührte ihn, wie ihn noch nie einer seiner Klienten gerührt hatte. Er teilte ihr Leid, fühlte wie sie das Bohren tief im Bauch. Dieses Messer, das sich mit scharfen Schnitten durch die Eingeweide wühlte.
Das war nicht mehr sein Job. Es war gut, dass er Unterstützung bekam. Er wollte das alles nicht mehr. Nie mehr. Was sehnte er sich nach Ruhe und Abstand! Er verfluchte seinen Chef, der ihn hier auf die vermaledeite Insel statt zur Kur geschickt hatte.
Es hatte eine Weile gedauert, bis sich Frau Mans und auch er gefangen hatten. Rothko war sich unglaublich unprofessionell vorgekommen. Schon ihre Frage, ob sie ihren Sohn sehen könnte, hatte ihn hoffnungslos überfordert.
Der Kommissar wusste, dass die Feuerwehr den Kleinen mitgenommen hatte. Die Frau würde ein Beerdigungsinstitut nennen müssen, mit dem der Junge von der Insel gebracht werden musste. Sie war dazu aber nicht mehr in der Lage gewesen. Mit jeder Information, die zu ihr durchdrang, wich ein Stück Leben mehr aus ihrem Gesicht, bis sie völlig erstarrt dasaß. Rothko hatte noch eine Weile versucht, sie anzusprechen, aber letztendlich den ansässigen Inselarzt gerufen, der sich der Frau angenommen hatte.
Verdammt, war Rothko jetzt nach einem Cappuccino! Er würde in ein Café gehen und sich dort in aller Ruhe seine gewohnte, qualitativ hochwertige Kaffeedröhnung zu Gemüte führen. Nach einem solchen Tag konnte er einfach nicht mit Pulverkaffee existieren.
Er schlüpfte in seine blaue Windjacke, die er sich eigens für Wangerooge gekauft hatte, und trat hinaus in die Charlottenstraße. Noch war nicht viel los, aber schon bald würden sich wahre Urlauberströme auf die Insel ergießen. Rothko schlug den Kragen hoch, zupfte den Schal am Hals zurecht und schlenderte in Richtung Zedeliusstraße. Er brauchte die unbeschwerten Menschen um sich herum, wollte für einen Augenblick so tun, als sei er rein zufällig hier und nichts auf der Welt könne ihn aus der Ruhe bringen.
Er steuerte auf das Hotel Hanken zu. Die verglaste Terrasse lud ihn geradezu ein, sich genau hier niederzulassen. Er setzte sich ans Fenster, bestellte aber einen Latte Macchiato, keinen Cappuccino. Das größere Glas würde ihm eine gewisse Genugtuung verschaffen.
Gegenüber vom Hotel befand sich die kleine Inselbuchhandlung. Rothko überfiel das Gefühl, er müsse sich dringend mal wieder ein Buch zulegen. Lesen, ja lesen wäre eine Beschäftigung, die ihn von dieser grausamen Welt ablenken würde. Er sah sich in seiner Dienstwohnung sitzen, einen Schmöker in den Händen, entrückt in eine andere Welt, die nichts, aber auch gar nichts mit seiner Wirklichkeit hier zu tun hatte. Hauptsache abgelenkt.
Gleichzeitig aber tanzte sofort das bleiche Gesicht des Jungen vor seinem Auge. Es würde nichts nützen. Nichts in dieser Welt befreite ihn von den grausamen Bildern. Jede Flucht war umsonst. Er war ein Sklave seiner Gedanken, ein Opfer seines eigenen Berufes, den er vor langer Zeit einmal als Berufung gesehen hatte. Gerechtigkeit war sein Stichwort. Er war ein Fanatiker. Wollte, dass es in dieser Welt fair zuging. Er lachte auf, dass die Leute vom Nebentisch verwundert herüberschauten. Er nahm einen Schluck von seinem Latte Macchiato. Der war noch heiß. Was aber war schon gerecht? Rothko war rasch klar geworden, wie schwammig der Begriff der Gerechtigkeit war und viele Facetten das Leben für alle Situationen bereithielt.
Er war nur ein winziges Rad in diesem großen System, konnte nur winzige Räder in Bewegung setzen. Aber genau diese Räder waren wichtig für die Funktion des ganz großen Rades, in das sie alle auf irgendeine Weise involviert waren. Jeder hier hatte seine Aufgabe. Rothko kam sich für den Moment unglaublich philosophisch vor.
Er trank den Latte Macchiato in einem Zug aus und winkte der Bedienung. Sein Trinkgeld fiel recht großzügig aus. Sein Gedankenparcours hatte ihm gezeigt, welchen Weg er gehen musste. Er hatte keine Chance, würde sein ganzes Leben von den Eindrücken geprägt sein. So gab es nur eines: Rothko stand so schwungvoll auf, dass der Korbstuhl hintenüber kippte. Das Personal war sofort zur Stelle und hob ihn auf. Kein böser Blick streifte ihn.
Gerade als er den Türgriff schon in der Hand hielt, trat der Chef des Hauses auf die Terrasse und brachte der älteren Dame in der Ecke zu ihrem neunzigsten Geburtstag ein Ständchen mit der Drehorgel. Rothko nickte stumm. Das genau war es. Genau deshalb machte er diesen Job. Um solch harmlosen und netten Menschen wie in diesem Hotel ihr sicheres Leben so weit wie möglich zu erhalten. Sie sollten weiterhin unbeschwert Musik hören und Geburtstagslieder singen können. Sie sollten das Lachen in ihren Augen nicht verlieren. Es war seine Aufgabe, ihnen Schutz zu gewähren. Dafür musste er alles tun, was in seiner Macht stand. Rothko merkte, dass er seinen Oberkörper aufrichtete.
Auf dieser Insel hatte sich ein Mensch herumgetrieben, der ein kleines Kind auf dem Gewissen hatte. Und er, er würde diesen Menschen finden!
*
Maria wartete, bis der Tee auf die Minute richtig gezogen hatte. Sie hatte noch den Kaffeeduft der Bäckerei in der Nase, der sich mit dem Duft des frischen Brotes vermischt hatte. Wie jeden Morgen war sie versucht, vielleicht doch einmal eine Tasse zu probieren. Aber das ließ sie nicht zu. Ihr Leben konnte nur weiter funktionieren, wenn sie funktionierte. Und zwar in festen und geordneten Bahnen. Keine Abweichung von der Norm. Sie musste Tee trinken, egal wonach ihr der Sinn stand. Sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen, griff nach der Zeitung und schlug sie auf.
Toter Junge in den Dünen sprang ihr als Schlagzeile entgegen. Sie quälte sich durch jedes Wort, wollte eigentlich nicht weiterlesen. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen, die sich aus ihrer Tiefe mehr und mehr nach oben schoben. Das alles erinnerte sie an Achim. Vielleicht war er es? Sie schüttelte den Kopf. Achim war seit zehn Jahren verschollen, wie sollte er jetzt plötzlich als Leiche in den Dünen auftauchen? Das ergab keinen Sinn. Sie las Wort für Wort, kämpfte sich durch den Inhalt. Erwürgt worden war der Kleine. Er war in etwa so alt, wie Achim es damals gewesen war.
Marias Hände zitterten. Sie betrachtete ihre Finger. Wie konnte ein Mensch damit einen anderen auslöschen? Sie tastete über ihren Hals, erspürte die Oberfläche. Haut an Haut. Dicht dran. Man fühlte die Wärme des Körpers. Oder hatte der Täter ein Seil, ein Tuch oder Ähnliches benutzt? Sie blätterte weiter. Auf der dritten Seite blickte sie das Foto des Jungen an. Er sah fast aus wie Achims Reinkarnation. Blond, sommersprossig, in alle Richtungen abstehendes Haar. Dazu die lustigen und gleichzeitig so unendlich traurigen Augen. Eine Mischung, die Tragik suggerierte. Das Gesicht tanzte vor ihr herum. Obwohl es erheblich breiter als Achims war, nahm es nach und nach dieselbe Form und den gleichen Ausdruck an, verschmolz immer stärker zu einer Einheit mit ihrer Erinnerung.
Maria musste mit ansehen, wie grobe Hände den schmalen Hals umfassten, wie Achims Augen größer und größer wurden. »Nein!«, entfuhr es ihr. Sie sprang auf, schleuderte die Zeitung in die Ecke. »Achim habe ich im Nebel verloren.« Sie ließ sich auf den Stuhl fallen. Ihr Kopf sank auf die Tischplatte, riss dabei die Tasse um. Ihr Haar badete in lauwarmem Teewasser. Maria merkte es nicht. Sie spürte auch nicht, dass sich die Pfütze ihren Weg bahnte und ihre nackten Füße benetzte.
Sie wurde die Bilder nicht los. Sie hämmerten durch ihren Kopf, schlugen Schneisen in ihren kleinen Schutzwald, der nie richtig wachsen durfte. Zu oft gab es Gelegenheiten, ihn niederzumetzeln. Maria hatte kein Mittel dagegen gefunden, sie wusste nicht einmal, ob sie eines finden wollte.
Als ihr Herz ruhiger schlug, das Zittern in ein monotones Beben übergegangen war, schoss es ihr wie ein Blitz durch den Kopf. ›Wangerooge‹, dachte sie. ›Ich muss nach Wangerooge. Nach all den Jahren gibt es für mich jetzt nur einen