Otternbiss. Regine Kölpin
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Der Junge war blass, bläuliche Adern drückten sich unnatürlich durch die Haut. Der Sand hatte sein Gesicht gepudert, sich über die einst blaue Iris gelegt und nahm ihr so den letzten Glanz.
Rothko wandte sich ab. Er hätte vorhin weitergehen sollen, seinen Instinkt ignorieren. Vielleicht wäre der Junge nie gefunden worden. Ein frommer Wunsch! Er entsprach auch überhaupt nicht Rothkos wirklichem Empfinden.
Er zückte das Handy und rief bei Ubbo an. »Ich brauche Dienstbeistand«, sagte er. »Dein Hund hatte recht damit, in Richtung der Dünen laufen zu wollen.«
Es dauerte nicht lange, bis sein Kollege eintraf. Sofort schob er seine Mütze vom Kopf und kratzte sich ausgiebig hinter dem Ohr. »Verdammt«, sagte er. »Verdammt.«
»Wir müssen in Wilhelmshaven anrufen, hier alles absperren. Weißt du, ob jemand dieses Kind vermisst?« Rothko war wieder ganz der Kommissar. Obwohl es eine besondere Situation war. Er hatte noch nie in seinem Polizistendasein selbst eine Leiche gefunden.
Ubbo zuckte mit den Schultern. Er war fast so blass wie der tote Junge. »Willst du dich lieber setzen?«, fragte Rothko, der befürchtete, dass sein Kollege sich gleich daneben legen würde.
Ubbo trat einen Schritt zurück, schüttelte entschieden den Kopf. »Geht schon.«
Mittlerweile hatten sich ein paar Neugierige um die beiden geschart. Ubbo wies den Hund an, auf und ab zu laufen, um die Meute in Schach zu halten. Das machte zumindest vorübergehend Eindruck, die Leute wichen zurück. Doch deren Neugierde war stärker. Einer glaubte den Jungen gestern noch mit dem Rad die Zedeliusstraße entlangfahren gesehen zu haben, andere waren der Meinung, ganz sicher gehöre er zu einem der Inselheime.
»Ich alarmiere die Feuerwehr. Zum Absperren«, beschloss Ubbo.
Rothko hatte sein Telefon bereits in der Hand. »Die Kollegen vom Festland müssen kommen«, erklärte er, während er die Nummer in die Tasten haute.
Seelenpfad 2
Reisen
… Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich …
Gottfried Benn (1886–1956)
Maria schälte sich aus dem Bett. Sie hatte keine große Lust aufzustehen, aber der Nachbarin versprochen, ihr beim Fensterputzen zu helfen. Sie konnte es nicht lassen, glaubte sich immer und überall kümmern zu müssen. Wer sie bat, ihm unter die Arme zu greifen, dem schlug sie nichts ab.
Sie jobbte ein paar Stunden in der Woche im Buchladen von Carolinensiel. Sie liebte das tägliche Schmökern, das Abtauchen in fremde Welten, die sie von ihrer eigenen Realität entfernten. Lektüre, die sie später den Leuten guten Gewissens zum Kauf anbieten konnte. Wobei sie eher scheu war. Menschen anzusprechen, auf sie zuzugehen, war nicht ihre Stärke. Sie war auch nicht in der Lage, einem wirklich geregelten Alltag nachzugehen, füllten ihre Grübeleien doch einen beträchtlichen Teil ihres Lebens aus.
Im letzten Jahr hatte sie beschlossen, den kleinen Fischerort zu verlassen, und eine längere Reise gebucht. Sie hatte eine größere Summe geerbt, weil ihr Vater, den sie gar nicht kannte, gestorben und sie Alleinerbin war. Sie solle verreisen, die Welt kennenlernen und darüber gesund werden, hatte Onkel Karl gesagt. Überall war Maria gewesen. In Habana, Zürich, Paris. Alle großen Städte dieser Welt hatte sie gesehen, um festzustellen, dass es besser war, sie blieb für den Rest ihres Lebens in Carolinensiel. Sie konnte nicht vor sich selbst davonlaufen. Die Vergangenheit wurde sie auch nicht los, wenn sie vor ihr floh. Verreisen war nur für die Menschen gut, die sich erholen wollten. Es taugte nichts für Leute, die schwer bepackt durch ihr Leben stolperten.
Nur wenige wussten allerdings von ihrem Trauma, von dem Tag vor zehn Jahren, der ihr Dasein so drastisch verändert hatte, dass sie ihr Leben nicht so führen konnte, wie andere es taten. Daniel gehörte zu diesen wenigen.
Die Schuld lastete schwer auf ihren Schultern. Sie hatte sich einen leicht gebeugten Gang angewöhnt. Maria war es wichtig, nicht aufzufallen, leise zu existieren. War sie schon zuvor ein eher stiller und zurückhaltender Mensch gewesen, so steigerte sie sich mittlerweile dermaßen in ihren Rückzug hinein, dass sie kaum engere Bekanntschaften oder Freunde an ihrer Seite duldete. Maria glaubte, dass alle Lebewesen, die zu dicht an sie herankamen, dazu verurteilt waren, Schlimmes zu erfahren. Sie verstieg sich in schlechten Phasen so weit, sich selbst als Überbringerin des Bösen schlechthin zu sehen.
Sie duldete nur wenige Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Daniel eben, ihren Sandkastenfreund. Und Onkel Karl, den Bruder ihrer Mutter. Da Onkel Karl alleinstehend war, hatte ihre Mutter ihm irgendwann angeboten, bei ihnen einzuziehen. So lebte er, seit sie denken konnte, bei ihnen und spielte seitdem eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Einen Vater kannte Maria ohnehin nicht.
Er war ein stiller Zeitgenosse, passte mit seiner Art zu Maria, weshalb sie sich in seiner Nähe auch unglaublich wohlfühlte. Weil ihre Mutter sich nur wenig um sie gekümmert hatte, war er es, der mit ihr zum Schwimmen gegangen war, war er es, der sie in jenem Sommer zum Anleger gebracht hatte. Und dort in Empfang genommen hatte, als sie zurückgekommen war. Schwer bepackt mit einer Schuld, die eine Fünfzehnjährige genauso wenig tragen konnte wie eine heute Fünfundzwanzigjährige.
Ihr Onkel versuchte immer wieder, sie mit Gleichaltrigen bekannt zu machen, motivierte sie, dem Sportverein beizutreten. Doch ab dem Augenblick, in dem sich jemand mit ihr verabreden wollte, tauchte Maria nicht mehr auf. Sie hatte kein Interesse an einer Freundschaft, konnte die Nähe anderer Menschen nicht ertragen.
Jede Nacht schreckte sie hoch. Träumte den immer gleichen Traum.
Sie ist gefangen im Nebel, sucht Achim. Sie riecht seine Haut, spürt die kleine Hand in ihrer. Manchmal haucht er sie mit seinem Atem an, fragt, wo sie sei, warum sie nicht käme. Ihm sei so kalt. Maria kämpft sich zu ihm durch, kann aber immer nur sein blaues T-Shirt sehen. Es ist leer. Kein Achim steckt darin. Nur seine Stimme ist zu hören, bis auch sie sich weit entfernt.
Wenn sie erwachte, war die Last oft so schwer, dass sie kaum aus dem Bett kam. Sie hatte Achim damals im Stich gelassen. Ihn allein in sein Verderben geschickt, wo er von einer Macht aufgefressen wurde, die sie nicht hatte beeinflussen können.
Keiner hatte ihr dafür die Schuld gegeben. Alle hatten sie getröstet. Der Seenebel sei schon oft eine tödliche Gefahr gewesen. Er komme und verschlucke die Welt. So auch Achim. Er war nie wieder aufgetaucht, seine Leiche hatte man nie gefunden. Er war vom Meer und diesem grauenhaften Nebel einverleibt worden.
Die Feuerwehr hatte die Suche nach einiger Zeit eingestellt, behauptet, Achim sei wahrscheinlich in Panik geraten, hatte die Orientierung verloren. Dabei sei er ins Meer hineingestolpert, in der Senke verschwunden und später mit der Ebbe in die Nordsee hinaus gespült worden.
All das konnte Maria nie beruhigen, ihr nie die Last von der Seele nehmen, dass sie schuld war an seinem Verschwinden. Hätte sie ihn damals nicht laufen lassen, wäre ihm nichts passiert.
Sie stolperte mit halb geschlossenen Augen in die Küche, stellte den Wasserkocher an, um sich einen Tee aufzubrühen. Die meisten ihrer Bekannten hatten mittlerweile