Otternbiss. Regine Kölpin
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Egal, was noch kommen mochte, sie, Maria, war Teetrinkerin. Es war, als sei dieses Ritual so etwas wie ein Halt, der sie begleitete, der ihr vermittelte, alles sei so, wie es sein müsse.
Während das Wasser kochte, schleppte sie sich zum Briefkasten und entnahm ihm die Tageszeitung.
*
Daniel stand am Fenster und wartete wie jeden Morgen darauf, dass Maria loszog. Gestern Abend hatte sie das Licht in ihrem Zimmer erst spät ausgemacht. Daniel wusste immer sehr genau, was sie tat. Er liebte es, sie beim Fensterputzen oder Rasenmähen zu beobachten, mochte ihren Gang, der so anrührend schleppend war. Ihre leicht gebeugten Schultern weckten in ihm den Beschützerinstinkt. Wie gern würde er seine Arme darum legen, sie auffangen und nach und nach aufrichten.
Er sah, dass Maria die Tür öffnete und sich auf den Weg zum Bäcker machte. Drei Brötchen kaufte sie dort jeden Morgen. Ein »Weltmeister«, das sie jedoch erst am Mittag zu sich nahm, ein »Mohn«, dessen Hälften sie dick mit Erdbeermarmelade beschmierte und ein »Normales«. Das aß sie immer mit viel Remoulade und Käse.
Daniel wusste alles über Maria. Wusste, dass sie darunter litt, ein paar Kilos zu viel auf die Waage zu bringen, wusste, dass sie es aber verabscheute, sich übermäßig zu bewegen. Hin und wieder hatte er versucht, sie zu überreden, ihn zum Joggen zu begleiten, aber das hatte Maria vehement abgelehnt. Sie hasste es zu schwitzen.
Sie würde in circa fünf Minuten zurück sein, die Tageszeitung unter den Arm geklemmt, die Brötchentüte in der Hand, den Schlüssel bereits vorgestreckt in der anderen. Sie hatte es immer unglaublich eilig, rasch in ihrem Haus zu verschwinden. Dort war der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Maria lebte wie eine Einsiedlerin mit ihrem verschrobenen Onkel.
Daniel hätte so gern mehr Kontakt zu ihr, würde ihre Mauern gern Schicht für Schicht abtragen. Sie ließ ihn nicht.
Also blieb ihm nur, sie weiter zu beobachten, alles in sich aufzusaugen, zu speichern. Bis sie ihn erhörte. Jedes Opfer würde er dafür bringen. Er brauchte Maria wie keinen Menschen auf der Welt. Sie war die Einzige, die ihn erretten konnte.
*
Rothko sah sich in seiner Dienstwohnung um. Die karge Einrichtung kam ihm eigentlich entgegen, wenngleich er das Sofa gern gegen ein anderes ausgetauscht hätte. Er ging in die Küchenecke, füllte etwas Kaffeepulver ein, er hatte die Nase von dem Pulvergesöff so was von voll. Er wollte einen zweiten Versuch mit der Maschine wagen. Er war eigentlich nicht pingelig, aber das Weiß des Kalkes war auch ihm aufgefallen.
Der Kaffee hatte fast keinen Geruch, das Pulver wirkte blass. Angeekelt schubste er den ausgefahrenen Filter zurück und stellte die Taste an. Wider Erwarten konnte er den Geruch von Kaffee tatsächlich erahnen. Das Wasser rülpste sich durch die Maschine. Er nahm die Kanne und goss sich die fast schwarze Brühe ein. Schon der erste Schluck war eine Beleidigung für seinen Gaumen. Er goss den gesamten Kaffee in den Ausguss.
Wie sollte er unter diesen Umständen einen vernünftigen Gedanken fassen? Er war hierher gekommen, um Abstand zu gewinnen und als ersten Akt fand er sogleich eine Leiche. Und dann noch die eines Kindes.
Die Spurensicherung aus Wilhelmshaven war mit dem letzten Schiff schon aufs Festland zurückgekehrt. Viel hatten sie nicht sichern können. Spuren waren unmöglich zu finden, bei der Bewegung, mit der der Sand sich immer wieder umschichtete.
Kraulke war auch mit von der Partie gewesen. Wichtig hatte er sich aufgeplustert, etwas davon gefaselt, man könne eventuell mit extremer Kriminaltechnik auch die Fingerabdrücke auf der Haut nachweisen. Weil DNA-Spuren bleiben. Der Pathologe hatte unwirsch abgewinkt. Es zwar nicht negiert, aber doch gemeint, es sei überaus schwierig und in den meisten Fällen nicht von Erfolg gekrönt. Oft fehle die Masse an Zellen. An Rothko gewandt, hatte er mit vorgehaltener Hand geflüstert, dass der Kollege Kraulke sich doch besser mit seinem eigenen Dunstkreis beschäftigen solle.
Hier würde nun ein weiterer Polizist einziehen. In ein paar Tagen kam auch der Dienststellenleiter der Insel zurück, so dass sie bald zu dritt wären. In einem Mordfall müssten sie sich sofort verstärken, war die Anweisung von oben.
Rothko wusste nicht, ob das eher positiv oder negativ war. Einerseits war er nicht erfreut darüber, sich Küche und Bad zukünftig teilen zu müssen. Andererseits hatte er nur wenig Motivation, sich hier voll und ganz auf diesen Mordfall einzulassen. Er wollte das eigentlich nicht mehr. Hatte doch die Nase voll von all dem Elend, Sumpf und Dreck. Nun holte ihn all das ein, wie eine losgetretene Lawine.
Er hatte schlecht geschlafen in der Nacht.
Er bekam den Anblick nicht aus dem Kopf. Wer zum Teufel erwürgte einen kleinen Jungen? Einfach so? Es gab keine Spuren sexueller Gewalt, nichts.
Die Mutter war völlig zusammengebrochen. Als er vom Strand zurückgekommen war, hatte sie wie ein Häufchen Elend vor der Tür des Polizeireviers gesessen, das Handy in der Hand, nur die ersten Ziffern der an der Tür angegebenen Nummer eingegeben. Sie war nicht einmal mehr in der Lage gewesen, sie vollständig einzutippen.
Die Frau musste mindestens fünfunddreißig sein, aber sie wirkte gute zehn Jahre jünger auf Rothko, trotz des blassen Gesichtes, in dem die furchtbare Ahnung bereits zu erkennen gewesen war. Sie hatte nicht viel sagen müssen. Er hatte auf Anhieb gewusst, warum sie hier war. Schon beim Aufschließen der Tür war ihm ein leiser Fluch über die Lippen geglitten.
Die Frau war ihm ins Dienstzimmer gefolgt. Der Name Lukas war aus ihr mit einer Verzweiflung herausgebrochen, die ihm Gänsehaut verursacht hatte. An dem Glas Wasser, das er ihr recht unbeholfen reichte, waren ihre Lippen abgerutscht, als habe er den Rand mit Vaseline eingefettet. Sie war nicht in der Lage, einen vernünftigen Satz zu sagen. Immer nur »Lukas. Lukas. Lukas.«
Rothko hatte zunächst den PC hochgefahren. Er brauchte irgendetwas, womit er beginnen konnte. Natürlich würde jeder Satz so verkehrt sein wie nur was. Für diese Situationen gab es keinen guten Einstieg, nichts, was die Sache auch nur im Geringsten entschärfte. Er begann folgerichtig völlig falsch. Die Frage, wie denn ihr Sohn aussehe, hatte die Frau vollends in sich zusammenbrechen lassen. Ihre Finger hatten sich ineinander verschränkt und ihre ohnehin bleiche Haut erschien noch weißer. Blond sei er, hallten ihre abgehackten Worte noch im Ohr. Blond und sommersprossig. Eher dünn. Vor allem die Arme und Beine schlackerten noch so wie nicht dazugehörig. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie weitersprechen konnte, oder besser, bis Rothko ihre Worte wieder verstand.
Sie sei extra noch einmal in die Wohnung zurückgegangen, weil sie gehofft hatte, er liege doch in seinem Bett und lache sie aus, weil sie sich Sorge mache. Er sei aber nicht dagewesen. Einfach nicht dagewesen. Den Satz wiederholte sie noch etliche Male. Es klang wie ein Echo und schraubte sich unwiderruflich in Rothkos Gehörgang.
Irgendwann hatte Angelika Mans den Mut gefasst, dem Kommissar ins Auge zu sehen. Ihr Kinn zitterte, während sie sagte: »Er ist tot, nicht wahr?«
Rothko senkte den Blick. Er folgte einer Spur, die sich längs über den Tisch zog. Er hatte die Lippen fest zusammengekniffen, hob die Augen wieder, als die Frau ihm ein Bild über den Schreibtisch schob. Ein Foto von dem Jungen, wie er weißgepudert am Strand stand. Weiß gepudert war der Kleine jetzt auch. Sein Gesicht sah nur anders aus. Ihm fehlte das Leuchten, das Rothko von