„So lasset uns ... den Staub von den Schuhen schütteln und sagen: Wir sind unschludig an Eurem Blut“. Richard A. Huthmacher
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Zur gesellschaftlichen, sozialen, politischen und demographischen Situation zur Zeit der Reformation gilt wie folgt festzuhalten:
In Deutschland lebten zu dieser Zeit ca. 10 Millionen Menschen, europaweit ca. (60-)80 Millionen. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts wurde in Deutschland wieder eine Einwohnerzahl wie zu Beginn des 14. Jahrhunderts erreicht; zwischenzeitlich hatte der „Schwarze Tod“ europaweit für eine Bevölkerungsreduktion um 30-50 Prozent gesorgt. Auch im 16. Jhd. gab es noch Pestepidemien; allein in Augsburg wurden in der ersten fünf Dezennien 38.000 Pesttote (in 8 Pestjahren) gezählt.
Indes war nicht nur der Schwarze Tod für einen drastischen Rückgang der Bevölkerung verantwortlich: Seit „der großen Hungersnot der Jahre 1313-1317 … [traten] die zyklischen Wechselbeziehungen zwischen Mißernten, Hungersnöten und Seuchen immer stärker in Erscheinung …“
Die Säuglings- und Kindersterblichkeit war groß; namentlich aufgrund dieser lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei gerade einmal 25 bis 35 Jahren. „Über die Sterblichkeit von Jugendlichen und Erwachsenen aus den lutherischen Mittel- und Oberschichten lassen sich anhand der Angaben in Leichenpredigten relativ zuverlässige Aussagen gewinnen: … [So] hatten Knaben mit fünfzehn Jahren die Aussicht, im Durchschnitt 57jährig zu werden, wogegen gleichaltrige Mädchen infolge der hohen Kindersterblichkeit und der physischen Überbeanspruchung nur ein Alter von 38 Jahren erreichten.“
In Deutschland lebten zur Zeit der Reformation weniger als 20 Prozent der Menschen in Städten (ca. 3.000 an der Zahl); 94,5 Prozent dieser Städte hatten – wie Wittenberg – nicht mehr als 2.000 Einwohner. Rund 5 Prozent (beispielsweise auch Basel und Konstanz) waren mittelgroße Städte mit 2.000 – 10.000 Einwohnern, und nur 0.5 Prozent der Städte zählten mehr als 10.000 Einwohner. Die meisten deutschen Städte wurden zwischen 1150 und 1450 gegründet; bis zum 19.Jhd. (Industrialisierung!) ging die Zahl der Neugründungen (drastisch) zurück.
Durch die Urbanisierung im Spätmittelalter veränderten sich die Wirtschafts- und Sozialstrukturen tiefgreifend; Handel und Gewerbe nahmen an Umfang und Bedeutung zu, mit ihnen gewann das (städtische) Bürgertum an Gewicht und wurde zum Movens wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Veränderungen.
Unter der Landbevölkerung waren zur Zeit der Reformation nur sehr wenige Bauern freie Bauern (d.h. persönlich frei und Eigentümer ihrer Höfe). Die Mehrzahl war feudaler Grundherrschaft unterworfen; lehensfähig (also potentielle Feudalherren) waren neben dem Adel die Kirche (mitsamt Klöstern) sowie seit dem 13. Jahrhundert auch das Patriziat, also die Herrschaftsschicht der Städte. Lehensgegenstand waren Grund und Boden nebst Erträgen, die Abgaben und Steuern der Unfreien sowie sämtliche Herrschafts- und Besitzrechte über diese und das von ihnen verwaltete Gut (einschließlich Polizeirechten und Gerichtsbarkeit).
Während den Grundherren das Recht am Boden (dominium directum) zustand, erhielten die unfreien Bauern nur ein wirtschaftliches Nutzungsrecht (dominium utile) und waren zu Abgaben (zum Zehnten) und zu Frondiensten verpflichtet; tatsächlich dürfte ihnen allenfalls die Hälfte der Ertrage verblieben sein.
Es gab indes auch selbstverwaltete Dörfer und Dorfgemeinden (die beispielsweise in der Schweizer Eidgenossenschaft – zusammen mit einigen Städten – als genossenschaftlicher Territorialbund ein Staatengebilde formten, das indes nach dem Schwäbischen Krieg 1499 de facto aus dem deutschen Reichsverband ausschied).
Wie immer dann, wenn Macht gegen Ohnmacht und Reichtum gegen Armut steht, waren die Methoden der Lehnsherren, ihre Lehen zu begründen oder zu erweitern, nicht gerade zimperlich:
Fälschungen in Art der Konstantinischen Schenkung (Falsifikat, das auf einer um 800 n. Chr. datierenden Urkunde basiert, wonach Konstantin I. im Jahre 315 Papst Silvester und all seinen Nachfolgern Rom, sämtliche Provinzen Italiens und die gesamte Westhälfte des Römischen Reiches übertragen habe) waren nicht die Ausnahme, vielmehr ein durchaus gängiges Mittel zum Erwerb von Besitztümern: Wollten Bischöfe und Äbte ihren Grundbesitz mehren, ließen sie oft eine Fälschung erstellen, die dann im Archiv „gefunden“ wurde und das angeblich rechtmäßige Eigentum an Ländereien bewies. Mönche wurden im Fälscher-Handwerk regelrecht ausgebildet; sie durchzogen dann das Land – von Kloster zu Kloster –, um dem erlernten „Handwerk“ nachzugehen.
Seit dem 14. Jhd. war das „Bauernlegen“ (zwangsweise Einziehung von Bauernhöfen) Usus; die Bauern wurden mit Gewalt zu Leibeigenen gemacht, das Gutsuntertanentum wurde erblich und den Entrechteten und Geknechteten erzählten ihre Oberen, dieser Zustand bestehe seit je und sei Gottes Wille – insbesondere das danieder gehende Rittertum wollte derart seine Pfründe sichern. Nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes von 1525 persistierte und florierte diese Art des Sklaventums; erst Napoleon sorgte, auch in Deutschland, für das Verschwinden feudalistischer Leibeigenschaft.
Insofern kann man mit Fug und Recht behaupten, dass Luther durch seine Rolle im Bauernkrieg einen erheblichen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Sklaverei und Leibeigenschaft und zu deren Fortdauer während der nächsten dreihundert Jahre geleistet hat!
Jedenfalls gilt festzuhalten: Die „Bauern wurden in ihrer sozialen Stellung zusehends zu leibeigenen oder untertänigen, an den Boden gebundenen Fronarbeitern herabgedrückt“; beispielsweise und nur pars pro toto wurde sämtliches Hab und Gut (sofern denn solches vorhanden) eingezogen, wenn ein leibeigener Bauer ohne Einverständnis seines Grundherrn heiratete.
Aus wirtschaftlicher Not bzw. als Versuch, einen Ausweg aus dieser zu finden, weiteten sich gewerbliche Tätigkeit (Heimarbeit) und Zunftwesen auch auf dem Lande aus (welcher Umstand im Gegensatz zu den Interessen der Städte stand); oft verkauften die Bauern ihre Söhne auch als (Söldner-)Soldaten.
Der Feudalherrschaft des Adels standen die Städte gegenüber; diese hatten seit dem Hochmittelalter eine politische und rechtliche Sonderstellung erlangt, weshalb sie Adel und Klerus (beide, beispielsweise in Form der Fürst-Erzbischöfe, oft miteinander in Personalunion) ein Dorn im Auge waren.
Da Luther in Wittenberg (und nicht in einer Freien resp. Reichs-Stadt) lebte, vertrat er die Interessen seines Territorialherren Friedrich. Nach dem alt- wie wohlbekannten und immer wieder neuen Motto: Wes´ Brot ich es, des´ Lied ich sing. Hätte Luther – so meine These – in Basel oder Zürich gewirkt, hätte er ein ideologisches Konzept vertreten, das die Interessen seiner (hypothetischen) dortigen Herren bedient hätte: Die religiös-inhaltlichen Gegensätze der verschiedenen reformatorischen Richtungen waren bisweilen marginal, die politisch-ideologisch-gesellschaftlichen Differenzen und „Contradictiones“ indes, die man daraus konstruierte, waren immens.
Ergo: Die Religion war das klägliche Feigenblatt, hinter dem knallharte machtpolitische Ansprüche versteckt wurden.
Fazit: Durch die Reformation wollten die Reichsfürsten – jedenfalls die, welche nicht zudem (Erz-)Bischöfe und dadurch zugleich und ohnehin schon religiöses Oberhaupt waren – auch die kirchliche Oberhoheit erringen sowie eine weitgehende Emanzipation mit Kaiser und König erreichen. Die Freien resp. Reichs-Städte verfolgten ihrerseits das Ziel, die Einflussmöglichkeiten des Kaisers/Königs zu verringern und die Begehrlichkeiten der zunehmend erstarkenden Landesfürsten abzuwehren. Und Kaiser und Kirche resp. der Papst wollten, das alles beim Alten und die Macht weiterhin bei ihnen blieb.
„Jede soziale Schicht brachte ihre eigene Reformation hervor. Der hohe Adel schloss sich samt … Untertanen Martin Luther an, das Bürgertum in den Städten vorrangig Zwingli und Calvin, die humanistischen Bildungsbürger Philipp Melanchthon, Bergknappen und Bauern Thomas Müntzer, die einfachen Handwerker Balthasar Hubmaier und den Täufern, die Ritter, also der niedere Adel, Franz von Sickingen. Es entstand sogar, immer noch wenig bekannt,