Die Königin der Tulpen. Christian Macharski
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Das alles hatte Kommissar Kleinheinz eigentlich gar nicht wissen wollen, als er an diesem Sonntag das Altenheim aufsuchte. Er wollte lediglich die Aussage von Frau Thönnissen aufnehmen, falls sie denn so weit wiederhergestellt war. Doch als er die breite, einladende Steintreppe hinaufgestiegen war, war er im Eingangsportal bereits von Dieter Brettschneider abgefangen worden und hatte von ihm unaufgefordert eine ausgiebige Begehung des Gebäudes verpasst bekommen. Dieter Brettschneider, der Leiter des Seniorenheims, war Mitte fünfzig, sah aber bedeutend jünger aus. Lediglich seine große Nase verhinderte, dass man ihn als gutaussehend bezeichnen konnte. Sein dichtes, schwarzes Haar trug er sorgfältig in der Mitte gescheitelt und sein dunkelblauer Anzug saß wie angegossen. Er schien sportlich zu sein, wenngleich sich ein kleines Bäuchlein über dem Gürtel wölbte. Der schwere Siegel ring, den er trug, war Kleinheinz als Erstes aufgefallen. Und auch sonst schien Brettschneider nicht mit seinem Wohlstand hinter dem Berg zu halten. Am Handgelenk prangte eine Rolex Daytona und auch das goldene Panzerarmband schien nicht billig gewesen zu sein. Bei seinem Rundgang hatte er in einem unaufhörlichen Redefluss stolz den wirtschaftlichen Aufstieg und die erfolgreiche Expansionspolitik seines 1990 gegrün deten Hauses hervorgehoben. Überhaupt lief er immer dann zur Hochform auf, wenn es um die unternehmerische Seite des Seniorenheims ging, sodass Kleinheinz leise Zweifel beschlichen, ob der Geschäftsführer auch in irgendeiner Form durch besonderes soziales Engagement motiviert war. Von den Bewohnern sprach er nicht selten als Insassen, natürlich nicht, ohne die Ironie seiner Worte durch schallendes Gelächter zu unterstreichen. Gleiches galt wohl auch für den ungewöhnlichen Namen „Haus Gnadenbrot“, für den Brettschneider eine erstaunliche Erklärung parat hatte. Kurz nach der Einweihung hätten einige jugendliche Vandalen in der Mainacht die überdimensionalen Buchstaben auf dem Dachfirst einfach vertauscht. Ursprünglich hätte das Heim nämlich „Haus Abendrot“ geheißen. Dass die Jugendlichen, sollte an dieser Version etwas dran sein, bei jenem Maischerz noch ein in gleicher Form und Größe gestaltetes „G“ und „N“ hätten mit sich führen müssen, wollte Kleinheinz nicht ansprechen. Zum einen interessierte es ihn nicht und zum anderen wollte er statt einer kritischen Diskussion eigentlich nur schnell mit Frau Thönnissen sprechen und ihre Aussage aufnehmen, um seinen Bericht zu vervollständigen. Deshalb fiel er Brettschneider auch barsch ins Wort, als dieser gerade von seiner neuesten Aktion schwärmte, nämlich „Schnupperwochen im Altenheim“, bei denen man seine Oma mal testweise für ein paar Tage im Heim parken könne, wie er es ausdrückte.
„Herr Brettschneider. Wo finde ich denn Frau Thönnissen?“
„Ach ja, richtig“, unterbrach der Heimleiter seinen Redeschwall, „Sie sind ja dienstlich hier. Wenn ich einmal heiß laufe. In mir steckt ein Verkäufer durch und durch. Ich habe damals lange im Im- und Export gearbeitet. Holländische Blumenzwiebeln. Ein Bombengeschäft. Kommen Sie, wir nehmen den Aufzug.“ Während sie auf den Fahrstuhl warteten, plapperte er unverdrossen weiter: „Aber wenn Sie mal eine Omma haben, die Ihnen gehörig auf die Nerven geht. Erst letzte Woche ist hier ein wunderschönes Zimmer frei geworden. Mit einem herrlichen Blick auf den Saffelbach.“
„Meine Oma ist letztes Jahr verstorben.“
„Das ist natürlich schade für Sie. Und für mich.“ Nach dem letzten Satz lachte er wieder schallend auf. Bevor Kleinheinz etwas entgegnen konnte, öffnete sich mit einem Zischen die Fahrstuhltür. Im Inneren saß ein alter, faltenzerfurchter Mann, der mit angestrengter Miene und steifen Bewegungen versuchte, seinen Rollstuhl über die Bodenschwelle zu lenken. „Ah, unser Herr ... äh ... hier Dings“, rief Brettschneider ebenso überzogen laut wie freundlich. Er zwängte sich an ihm vorbei in den Aufzug, ohne Anstalten zu machen, ihm über die Schikane zu helfen. Von hinten gab er dem Rollstuhl einen leichten Tritt, sodass dieser mit Schwung über die Schwelle rumpelte. Der alte Mann brummelte etwas Unverständliches und Brettschneider wandte sich wieder dem Kommissar zu, während sich die Aufzugtür geräuschvoll hinter ihnen schloss: „Das Erfolgsgeheimnis ist, genau die richtige Mischung zwischen Respekt und Mitgefühl für die alten Knacker zu entwickeln.“
Kleinheinz, der nur schwer an sich halten konnte, versuchte das Thema zu wechseln. „Warum lebt denn Frau Thönnissen hier? Sie machte gestern auf mich einen sehr rüstigen Eindruck – abgesehen von dem Schock, unter dem sie stand.“
„Einsamkeit. Wissen Sie, wir sind hier ja auch so eine Art Geriatrie-Wellness-Oase.“ Er musste kurz auflachen über seine Wortschöpfung. „Hier leben ja nicht nur umnachtete Tattergreise, sondern auch Menschen, die keine Familie mehr haben und die Gesellschaft brauchen. Und wenn sie das nötige Kleingeld dafür haben, kann man hier gut leben. Besser als im Hotel.“
Der Aufzug kam mit einem Ruck zum Stehen und die Tür öffnete sich wieder. Davor wartete eine junge, sehr attraktive Schwester mit einem Tablett, auf dem ganz offensichtlich mehrere Urinproben standen. Brettschneider wies ihr breit lächelnd mit beiden Armen den Weg in den Fahrstuhl und sagte: „Oh, Schwester Vanessa. Aber nicht wieder alles auf einmal austrinken.“ Darauf folgte das schon obligatorische laute Lachen. Schwester Vanessas Wangen erröteten leicht und sie zwang sich ein gequältes Lächeln ab.
Kleinheinz musste sich anstrengen, mit Brettschneider Schritt zu halten, als dieser den Flur entlangpflügte. „Hier um die Ecke ist der große Essenssaal. Da müsste Frau Thönnissen jetzt sein. Es gibt hier genug ruhige Ecken, wo Sie sich mit der alten Schacht ... äh ... Dame unterhalten können. Stimmt es wirklich, dass sie gestern bei dem Überfall mit im Laden war?“
„Bedauerlicherweise ja. Ich danke Ihnen, Herr Brettschneider. Ich komme dann alleine klar. Vielen Dank für die interessanten Eindrücke.“
„Gerne. Wenn noch was ist, ich bin unten in meinem Büro.“ Er drehte sich schwungvoll um und wäre fast mit einer Bewohnerin zusammengestoßen, die gerade, auf einen Rollator gestützt, auf dem Weg in den Essenssaal war. „Huppsala, Frau ... äh ... Dings. So schnell unterwegs? Nicht, dass Sie noch geblitzt werden.“ Lachend ging er zurück zum Aufzug.
Kleinheinz atmete kurz durch, bevor er in den Essenssaal trat. Er erkannte Frau Thönnissen sofort. Als er sie ganz alleine an einem Tisch sitzen sah, wo sie leicht vornübergebeugt mit ihrer zittrigen rechten Hand ganz langsam ein Stück Marmorkuchen zerteilte, überfiel ihn eine bleierne Traurigkeit und er musste unwillkürlich an seine geliebte Großmutter denken, die in ihrem letzten Lebensjahr auch immer so schief an ihrem kleinen Küchentisch gesessen hatte, so als ob sie die ganze Last des Lebens auf ihren knochigen, zerbrechlichen Schultern tragen müsste. Damals war der einstige Glanz in ihren Augen längst erloschen und man hatte das Gefühl, sie würde nur noch darauf warten, erlöst zu werden. Kommissar Kleinheinz schneuzte sich kurz und leise die Nase, bevor er auf Frau Thönnissen zuging.
6
Sonntag, 12. Juli, 15.59 Uhr
Das Thermometer war an diesem Nachmittag auf über 28 Grad geklettert. Borowka wedelte sich mit der Speisekarte frische Luft ins Gesicht. Obwohl sie draußen saßen, machte ihm die drückende Hitze zu schaffen. Außerdem fächelte er, um sich irgendwie zu beschäftigen. Seit über zwei Stunden saßen sie nun schon hier auf der Außenterrasse der Saffelener Frittenbude „Grill-Container“. Sobald das Wetter es zuließ, stellte die Inhaberin, Rosi Schlömer-Okawango, Plastiktische und -stühle auf den Schottervorplatz ihrer mit weißen und roten Lampions geschmückten Imbissbude. Für die Gäste war es eine Wohltat, konnten sie doch nicht nur die Sonne genießen, sondern auch noch