Fahlmann. Christopher Ecker

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BaND EINS

      1Mein Vater starb, als er sich nach einer Schachtel Zigaretten bückte. Genauer gesagt, bückte er sich nach einer zerknautschten Schachtel Gauloises ohne Filter, und da Heinz der einzige von uns war, der filterlose Gauloises rauchte, kam ich nicht umhin, mir vorzustellen, wie er am Abend des Vortags den Helm aufgesetzt hatte, sich nach getaner Arbeit eine Zigarette anzündete, die Schachtel achtlos fallen ließ und auf seiner Vespa davon knatterte. Ich gebe ihm jedoch keine Schuld am Tod meines Vaters. Heinz hat eine leere Zigarettenschachtel weggeworfen – nichts weiter!

      Mein Vater war ein Pedant: Scharfe Bügelfalten, korrekte Manieren, glatter, pomadisierter Scheitel, Rabattmarken, der Schnurrbart dicht über der nervös zuckenden Oberlippe gestutzt. Er war jemand, der aus heiterem Himmel beschließen konnte, die Gewürze alphabetisch zu ordnen. Ich erinnere mich gut an die erbitterten Diskussionen, die der Umsetzung dieses Plans vorausgingen. Vater plädierte nämlich dafür, Jodsalz unter J einzusortieren und Chilischoten unter C, was ich (ich war damals neun oder zehn Jahre alt) für ausgemachten Blödsinn hielt. Jodsalz müsse man unter S wie Salz einordnen, argumentierte ich schlüssig, und Chilischoten gehörten zu P wie Pfeffer.

      «Nein, nein, nein!», sagte Vater leise und zupfte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackett.

      «Oberbegriffe, Armin!», sagte Mutter und ließ das Buch sinken. «Es geht um Oberbegriffe. Der Junge hat vollkommen recht!»

      Nach ihrer überraschenden Einmischung stand es 2 : 1 gegen Vater, doch er gab nicht auf. Er gab nie auf, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. «Nehmen wir mal an, ihr sucht das Jodsalz. Sucht ihr es dann unter S? Hieße das Jodsalz Sodsalz, müsste ich euch recht geben. Kein Problem. Aber Jodsalz heißt nun mal Jodsalz. Dafür kann ich nichts!» Sein Seufzer zollte den ungeheuren Leiden all derer Tribut, die sich in großherziger Selbstaufopferung bemühen, unsere unvollkommene Welt ein wenig vollkommener und übersichtlicher zu machen. «Wieso wollt ihr mich nicht verstehen? Wenn man Chilischoten sucht, sieht man dann bei den P-Gewürzen nach oder», seine Stimme wechselte die Tonlage und drang in listige Gefilde vor, «nicht etwa bei den C-Gewürzen?»

      «Aber wir wissen doch, wo alles steht», warf ich ein.

      «Nein, mein Junge», sagte Vater im Tonfall resignierten Tadels, den Blick auf die Spitzen seiner Lackschuhe gesenkt, «so leicht dürfen wir es uns nie machen.»

      Vater hat es sich im Leben nie leicht gemacht. Bei Spaziergängen las er Bonbonpapierchen und Zigarettenkippen auf, und sah er irgendwo die Ankündigung einer Veranstaltung, die bereits stattgefunden hatte, riss er den Anschlag mit einem Ausdruck ungläubigen Zorns von der Plakatwand. Als er starb, war ich erwachsen und stand am Fenster meiner eigenen Küche, wo die Gewürze weder sortiert waren noch sich überhaupt auf einem Gewürzbord befanden. Ich hielt eine große Tasse Kaffee in der Hand, pustete hin und wieder auf die schwarz spiegelnde Oberfläche und war zu faul, mich mit Susanne zu unterhalten, die hinter mir mit der Zeitung raschelte. Ich sah hinab in den Hof. Genauer. Ich muss mich genauer erinnern, auch wenn es schwer fällt. Meine Konzentration ist heute nicht die beste. Unsere Küche befand sich im ersten Stock, eine Etage und mehrere Jahre über den Jodsalz- und Chilischotendiskussionen meiner Kindheit. Meine Eltern bewohnten zwar noch immer das Erdgeschoss, aber ich war inzwischen mit meiner eigenen dreiköpfigen Familie, deren jüngstes Mitglied sich um diese Uhrzeit im Kindergarten aufhielt, in den ersten Stock gezogen, den Vater, bis ich – übrigens keine Spur reumütig – in mein Elternhaus zurückgekehrt war, an die Familie Bahlow vermietet hatte. Das klingt verwirrend. Mehr dazu später, wenn ich es nicht vergesse.

      Am Küchenfenster bot sich mir die Aussicht auf die schmutzig-graue Ostwand des Gebäudes, das in einer Entfernung von gut zehn Metern den Hof begrenzte und die Einnahmequelle unserer Familie beherbergte. Das schwarze Schild mit den Goldlettern war allerdings nur von der Straße aus zu sehen: Es überspannte zwei Schaufensterscheiben, hinter denen schwere, bodenlange Vorhänge den Passanten die Sicht ins Gebäudeinnere verwehrten. Die halbherzige Dekoration (einige staubige Urnen, einige staubige Grablaternen) verwies auf die Art des Gewerbes, das hier ausgeübt wurde. Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann, stand auf dem Schild, und darunter: Erd-, Feuer- und Seebestattungen. Vater hatte das Unternehmen in den späten fünfziger Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder aufgebaut. Vater kümmerte sich um die Verwaltung, und Onkel Jörg, ein überzeugter Junggeselle, der nicht so zart besaitet war wie sein Bruder, fuhr den Leichenwagen, sargte ein und widmete sich dem kniffligen Handwerk des Präparierens. Bei all diesen Tätigkeiten ging ihm Heinz zur Hand, der ein noch weitaus vierschrötigeres Naturell als mein Onkel besaß.

      Heute erscheint es mir mehr als nur merkwürdig, dass mein empfindlicher Vater auf die Idee gekommen war, Bestattungsunternehmer zu werden. Bei einem Sonntagsspaziergang hatte er sich einmal heftig (fast hätte ich geschrieben: orgiastisch) übergeben, weil er beinahe in einen feucht schillernden Haufen Hundescheiße getreten wäre. «Du bist nicht mal reingetreten!» Mutter konnte es kaum fassen. «Stell dich nicht so an! Wärst du reingetreten …» – «Bitte, Marianne, sei still! Hack nicht länger drauf rum!» Vater lockerte den Kragen, löste den Knoten der Krawatte und wischte sich Schweißperlen von der Oberlippe. «Du machst es nur noch schlimmer! Oh, ich darf gar nicht dran denken, sonst wird mir wieder schlecht.» Diese Begebenheit hat mich vermutlich so stark beeindruckt, weil sich hier das Vaterding in den tadellosen Anzügen, das als ständigen Vorwurf gute Manieren zur Schau stellte, kurzfristig in einen richtigen Menschen

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