Fahlmann. Christopher Ecker
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Am Boden des Filters hatte sich ein fingertiefer Morast gebildet, ich goss heißes Wasser nach, flutete den Sumpf zum dampfenden Tümpel, zum See, und ließ den Kaffeesatz bis zum oberen Rand emporstrudeln. Am nächsten Tag hatte ein Apfel auf meiner Bank gelegen. Ich betrat das Klassenzimmer, sah ihn, bemerkte zugleich, dass mich alle beobachteten, versuchte, erfreut und überrascht zu wirken, näherte mich meinem Platz ohne Astrid dabei anzusehen, setzte mich blöd grinsend hin und ließ den Apfel unter der Bank im Ranzenfach verschwinden. Selbst nach den Weihnachtsferien lag er noch da, faulte und verströmte süßlichen Verwesungsgeruch. Ich ekelte mich dermaßen vor dieser verschrumpelnden Frucht, dass ich sie nicht berühren konnte. Nicht in der Lage, sie eigenhändig zu entfernen, setzte ich meine Hoffnungen in die Putzfrauen, doch der Apfel blieb liegen. Abends vorm Einschlafen dachte ich an nichts anderes als an diesen sich in grauen Schleim verwandelnden Apfel, ich konnte mich in der Schule kaum noch konzentrieren, vergaß Zahlen beim Kopfrechnen, verlas mich beim Vorlesen, Apfel, tönte es unaufhörlich in meinem Kopf, verfaulender Apfel. «Georg?» Fräulein Gilbeck baute sich vor mir auf. «Hast du häusliche Probleme?» Ende Februar fasste ich den Entschluss, mir die Sache etwas kosten zu lassen. Neben mir saß Jochen. Seine Eltern waren bei einem Autounfall tödlich verunglückt, was ihn in den Augen seiner Mitschüler zu einer Sensation machte. Er lebte bei einer alten Tante, durfte Raumpatrouille Orion und Die Vögel sehen («Und wosch! fliegt die Tankstelle in die Luft!») und war ein hartgesottener, frühreifer Bursche («Dann haben wir aus ihrer Tittenmilch Pudding gemacht!»), der kein Wort Hochdeutsch sprach und seine Popel so genussvoll und ungeniert verzehrte, wie ich es seither nie wieder gesehen habe. «Ich geb dir ne Mark, wenn du den Apfel wegmachst.» – «Ich machs für zwei.» – «Okay!», sagte ich, und wir besiegelten es mit Handschlag. Vielleicht hat Susanne ja recht mit der Behauptung, dass ich zu viel in der Vergangenheit lebe, überlegte ich am Küchenfenster, aber ich kann nicht verzeihen. Von Fräulein Gilbeck bis zum unfreundlichen Busfahrer meiner Gymnasialzeit: Sie stehen alle auf der Schwarzen Liste.
Ich warf die Filtertüte in den Ausguss, schenkte mir Kaffee ein. Unten zog Mutter die Wohnungstür zu, und kurz darauf sah ich sie nur wenige Meter an der Stelle vorübereilen, wo Vater gestorben war; sie hatte offensichtlich die erste Stunde frei. Seit Vater tot war, blühte sie von Jahr zu Jahr mehr auf. Die Arbeit machte ihr Spaß, die Schüler nannten sie Frau und nicht Fräulein Fahlmann, und auf die Idee, eine Nikolaus-Tombola zu veranstalten, wäre sie gewiss nicht gekommen. Mutter, von deren Vater ich die Leidenschaft für Bücher geerbt hatte, half Jens nachmittags bei den Hausaufgaben. Mein Argument, dass sich das schon einmal bezahlt gemacht habe, überzeugte selbst Susanne, überdies mochte ich es (was ich Susanne allerdings nicht auf die Nase band), meine Mutter in dem wiederzuerkennen, was Jens mir erzählte, Mutter, wie sie früher gewesen war, wenn sie sich neben mir über den Wohnzimmertisch beugte, vor uns aufgeschlagene Bücher und Hefte, während sie sich mit dem Tintenkiller geduldige Locken ins Haar drehte.
Leider hatte die Mutter meiner Kindheit nur wenig mit der sonnenbankgebräunten Person zu tun, die jetzt über den Hof hastete, um den Acht-Uhr-Fünfzehn-Bus zu erwischen, einer Frau, die sich krampfhaft weigerte, alt zu werden, mit zu jungen Männern schäkerte, lachhaft modische Kleider und Teenager-Schmuck trug sowie viel zu oft «in den sonnigen Süden» flog. Ich kann mir übrigens kaum vorstellen, wie ich als Kind aussah. Gewiss, es gibt Fotografien (ich auf Mutters Schoß, ich auf der Schaukel hinterm Haus, ich beim Kuchenbacken mit mehlbestäubtem Gesicht), aber diese Bilder scheinen mir auf seltsame Art und Weise verkehrt zu sein, denn in meinen Kindheitserinnerungen agiere ich stets als körperlich kleinere Version meines erwachsenen Ichs, und der Gedanke, dass ich der kleine Junge gewesen sein soll, der meiner Mutter von seinem Taschengeld ein Küchengerät aus Plastik zu Weihnachten kaufte, verwundert und rührt mich zugleich. Im Gegensatz zu Vater gab mir Mutter immer das Gefühl, ihr etwas Schönes, etwas Nützliches geschenkt zu haben, indem sie meinen Tanten und Onkeln das Geschenk präsentierte, wenn diese am zweiten Weihnachtsfeiertag ihren Pflichtbesuch abstatteten. Ich hatte Vater einmal ein Feuerzeug zum Geburtstag geschenkt. Obwohl er sich damals bei mir bedankte, argwöhnte ich, dass er sich nicht so recht freute, dabei hatte mich das rote Plastikfeuerzeug siebzig Pfennig gekostet und mir zudem einen langen, belehrenden Vortrag des Tabakwarenhändlers über die Gefahren des Rauchens eingebracht. «Und dann schneiden sie dir die schwarzen Raucherbeine ab», resümierte er vergnügt und überging mit einem wissenden Lächeln meine Bemerkung, es handele sich um ein Geburtstagsgeschenk für meinen Vater. «So was hör ich jeden Tag», seufzte er. «Das hör ich so oft, dass ich mir manchmal wünsche, ihr würdet euch was Ordentliches ausdenken.» Wortlos zählte ich ihm sieben Zehnpfennigstücke in die aufgehaltene Hand; ich werde ihn ebenfalls auf meine Schwarze Liste setzen.
An seinem Geburtstag wickelte Vater das Feuerzeug aus der Papierserviette, in die ich es eingeschlagen hatte, sagte: «Aha!», was längst nicht so erfreut klang, wie es wahrscheinlich klingen sollte, räusperte sich erschrocken, als er den Gesichtsausdruck meiner Mutter bemerkte, murmelte: «Danke sehr!» und ließ das Feuerzeug in der Jackentasche verschwinden. «Verschwinden» ist das richtige Wort, denn es blieb tagelang verschollen, bis es überraschend in der Kramschublade des Küchentischs auftauchte, wo ich ab und zu nach Kleingeld stöberte. Von da an schob ich das Feuerzeug jeden Abend unauffällig in Vaters Reichweite, sobald er in seinem Fernsehsessel Platz genommen hatte, um die Tagesschau zu sehen, die Beine hochgelegt, auf dem Wohnzimmertisch der Aschenbecher und die Abendzigarre.
Aber jedes Mal, wenn Vater das Feuerzeug benutzte und es beim Wetterbericht an die Spitze der Zigarre hielt, um die Flamme mit kussähnlichem Schmatzen in den Tabak zu saugen, wurde mir schmerzlich bewusst: Er hatte vergessen, dass es sich hierbei um das Geburtstagsgeschenk seines Sohns handelte. Achtlos legte er es beiseite und zog sich in eine Wolke beißenden Gestanks zurück, aus der nach einer Weile ein Arm kam, um nach der Fernsehzeitung zu tasten. Dieses Spielchen machte ich etwa eine halbe Woche mit, dann hatte ich die Nase voll: Ich ließ das Feuerzeug in der Kramschublade, und zu meiner Bestürzung zog Vater am ersten feuerzeuglosen Abend ein Schächtelchen extralanger Streichhölzer aus der Brusttasche der Feierabendweste und gab sich mit großer Selbstverständlichkeit Feuer. Seitdem habe ich ihm nichts mehr geschenkt.
Über solche Sachen dachte ich oft nach, wenn ich mich ins Untergeschoss schlich, nachdem Mutter zur Arbeit gegangen war. Bereits im Wohnungsflur lauerten Erinnerungen, und kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, ergriff mich die wehmütige Gewissheit eines unwiederbringlichen Verlustes. Eine moderne Couchgarnitur hatte die bequemen Sessel vertrieben, der Läufer war verschwunden, über dessen umgeknickte Ecke wir früher alle gestolpert waren, und die zahllosen Aschenbecher hatten nach Vaters Tod ihr trauriges Exil auf dem Dachboden angetreten, wo sie nur noch mir treue Dienste leisteten. Im neu gekachelten Badezimmer, hier roch es nach Mutters süßlichem Deodorant, vermisste ich meinen Handtuchhalter Marke Entenkopf, auf dem Glasregal über dem Waschbecken stand